Montag, 10. Februar 2014

Stegreifauf-Sage, Teil 3/3

Ich erhebe mich und schiebe mich durch die kleinen Diskussionsgruppen hindurch in Richtung der Tür. Mit dem Blick schräg nach vorne auf den Boden gerichtet und meinen Gedanken in weit entfernten Galaxien laufe ich mit meinem Freund durch die Schulgänge. Er bequasselt mich, was das doch für ein Mist war, wie wenig er gewusst hat und wie sehr er auf dem Schlauch gestanden war. Aber meine Aufmerksamkeit gilt ganz anderen Sachen, sodass ich unseren Gang zum Raucherplatz, seine Hasstiraden und das hitzige Gerede der vor- und hinter uns befindlichen Klassenkameraden überhaupt nicht wahrnehme. Für ihn biete ich nur ein Überdruckventil, ein Alibi, um seinen Monolog nicht als solchen erscheinen zu lassen, was aber seinen Anforderungen auch komplett entspricht. Meine geistige Absenz stört ihn nicht im geringsten. Wahrscheinlich bemerkt er vor lauter Aufregung nicht einmal, dass die Unterhaltung, die er ursprünglich zu beginnen versuchte, gar nicht stattfindet.
Von Zeit zu Zeit kommt von hinten einer zu uns geeilt um uns hysterisch zu fragen wie es denn bei uns so gelaufen ist. Oder von der Gruppe vor uns blickt sich einer um, bleibt stehen, wartet bis wir ihn eingeholt haben und mit einem Grinsen, wie es 8-jährige vor dem Weihnachtsbaum an Heiligabend bekommen, stiert er uns an und sprudelt uns einen schmierigen Fragenschwall entgegen, der von Neugier und Jovialität nur so trieft. Ekelhaft!
Wir treten durch die schweren Glastüren hinaus in den Pausenhof. Die frische, kalte Luft nimmt meinen Gedanken die apathische Schwere und haucht ihnen Leichtigkeit ein. Ich werde etwas lockerer und kann meine Gedanken auf meine Umgebung konzentrieren, doch von Redseligkeit bin ich noch weit entfernt. Während wir den Pausenhof in Richtung Raucherecke überqueren kreisen meine Mitschüler wie Elektronen um mich, ihren Kern, herum. Jeder ist am Verlauf der Stegreifaufgabe des Anderen interessiert, jeder will am liebsten allen Anderen gleichzeitig seinen Verlauf in dramatisierter Weise schildern. Doch ich freue mich nur auf den ersten warmen Zigarettenzug, der sich mit der kalten Nebelluft in meiner Lunge vermischt und mir die nötige Entspannung bringen wird, die vielleicht noch nie zuvor so wichtig war wie jetzt. Im Rauchereck positioniere ich mich bewusst etwas abseits, am Rand der Rauchergruppe, auf einer der äußersten Schalen, um nicht wieder im Kern des Geschehens zu sein. Feuerzeuge klicken, kurz wird es still und man kann sogar das Knistern der Zigaretten der direkten Nachbarn hören. Instantan setzt ein kollektives Ausatmen ein und schon gerät die Diskussion wieder in Schwung. Ich ziehe gleich noch einmal an der Zigarette und blicke auf den Boden. Zwischen den Ritzen der Pflastersteine schlängelt sich eine Ameisenstraße ihren Weg in einen Spalt in der Außenwand der Schule. Alles bereitet sich auf den Winter vor… Plötzlich richtet einer der anderen Raucher das Wort an mich. „Hey Joe, was war eigentlich mit dir vorhin? Wieso hast du plötzlich während der Ex Nein, bleib hier! geschrieen?“ Erschrocken blicke ich auf und eine Flut von Blitzgedanken und Erinnerungen schießt mir durch die müden Gehirnwindungen. Mist, Mist, Mist. Ist es wirklich wahr, was ich vorhin erlebt habe? Wie viel haben die Anderen davon mitbekommen? „Ähm..was? Achso, ja. Mein..äh..mein Bleistift ist vom Tisch gerollt und irgendwie ist mir das dann rausgerutscht als ich versucht habe ihn zu fangen..“ Notgedrungen versuche ich ein authentisches Lachen hinterherzuschicken, was mir, glaube ich, total misslingt. Doch meine Kollegen schlucken es. „Haha krass! Oh Mann…du bist drauf!“ Ein holpriges Kichern geht durch die Runde. „Wie lief’s bei dir eigentlich? Du sagst die ganze Zeit gar nichts?“ - „Ja keine Ahnung.. passt schon glaube ich, die Ex. Mir geht’s bloß nicht so gut, ich glaub ich gehe jetzt heim..“ Sie haben meine Improvisation wirklich geschluckt. Gerade noch davon gekommen. Kurz verfalle ich wieder in die alten Gedankenmuster. Was, von dem das ich erlebt habe, ist wirklich geschehen? Alles kann nicht so passiert sein, wie ich es erlebt habe. Aber wo ist die Grenze des Reellen? Schnell komme ich von den Gedanken wieder ab. Hat ja doch keinen Sinn. Ich wende mich von der Gruppe ab und sehe nach vorne zur Straße. Dort erblicke ich eine alte Dame, die in einem Wägelchen ihre Einkäufe über einen Zebrastreifen schiebt. Sie ist gut und gerne schon jenseits der Siebzig. Wahrscheinlich schätzt sie sich froh, in ihrem Alter die alltäglichen Pflichten noch selbstständig erledigen zu können. Es ist kurz vor Zwölf. In zehn Minuten wird sie zuhause sein, dann ist für sie der Tag schon gelaufen. Sie wird dann ihren Platz auf der Couch einnehmen und durch die dritten Programme im Fernsehen schalten, von einer Lappalie zur nächsten. Vielleicht hat sie Glück und ihre Enkel statten ihr heute den allwöchentlichen Besuch ab, aber nur vielleicht. Ihr Leben lang hat sie sich fit gehalten, gesund ernährt und anständig verhalten - doch wofür? Um jetzt, im Alter, noch existieren zu können. Die Genüsse und Freuden, die ihre Jugend einst zu bieten hatte, kann sie im Alter nicht einmal mehr erahnen.

Oben im dritten Geschoss der Schule zeichnen sich unsere Streber hinter den spiegelnden Fensterscheiben ab. Sie werden genauso enden, denke ich mir. Armes Volk, wenn sie nur wüssten…