Mittwoch, 23. Juli 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 3/4

Erst als er knappe fünfzig Meter von ihnen entfernt war, nahm er die vielfältigen Geräusche einer größeren, geschäftigen Ansammlung von Leuten wahr. Halb enttäuscht und halb neugierig wurde er aus seiner schützenden Traumwelt gerissen. Das Funkeln aus seinen Augen verschwand und ließ ihn verwirrt und bemitleidenswert aussehen, wie ein Kind, das gerade aufgeweckt wurde und mit den Gedanken noch halb im Schlaf verloren ist. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er der Sonne entgegen in die Richtung, aus der er den Lärm vernommen hatte. Dort konnte er hauptsächlich Personenpaare entdecken, die sich unterhielten. Viele Tische waren da aufgebaut, die mit undefinierbaren Dingen belegt waren und einige Autos parkten um die Szenerie herum. Eine angenehme, freundliche, beinahe einladende Stimmung wehte von dem Geschehen aus durch die Straße und entzündete in Peter die Neugierde auf die Menschen zuzugehen und herauszufinden, was dort vor sich ging, was normalerweise gar nicht seine Art war. Schnell trank er im Schutze eines Baumes sein Bier aus, um nicht sofort in der Gesellschaft Anstoß zu erregen und begab sich dann leise, unauffällig und mit nebensächlicher Miene in Richtung der Leute. Umso näher er kam, desto intensiver empfing ihn die seltsame Stimmung, die da vorne herrschte. Es war die Gesamtheit sämtlicher Eindrücke, die diese Gemeinschaft aussendete, die in ihm ein vertrautes Erinnern an die alten Zeiten auslöste. Der Großteil der Anwesenden war in seinem Alter, hatte die Umgangsformen und Redensarten zu eigen, die früher, zu seinen Schulzeiten, in Mode waren und die meisten von ihnen unterhielten sich auch über längst Vergangenes. Als er sich schließlich auf der anderen Straßenseite auf nahezu gleicher Höhe des Geschehens befand, konnte er die Mengen an größtenteils unbrauchbaren Trümmern erkennen, die auf und vor den Tischen der Leute lagen. Sofort erkannte er, wo er hier gelandet war. Der sonntägliche Flohmarkt, den er schon zu Kindeszeiten besucht hatte, war in vollem Gange. Seit Ewigkeiten war er nicht mehr hier gewesen, da er zu dieser Tageszeit normalerweise zuhause, hinter zugezogenen Rouleaus, im Tiefschlaf ruhte, um die bösen Geister auszuschwitzen. Doch die kindliche Begeisterung für das Durchstöbern fremden Eigentums und die Chance auf den Fund eines kleinen, kostbaren Schatzes überkam ihn sofort wieder und so mischte er sich voller Eifer unter die Menschen. Aufmerksam passierte er die ersten Stände ohne sich ernsthaft mit ihnen zu beschäftigen. Vielmehr nutzte er sie dazu um die gemeinschaftliche, doch auch konkurrierende Stimmung einzuatmen, die hier wie eine große, unwirkliche Wolke alles umhüllte. Auf den ersten Blick harmonierten alle Verkäufer sowohl untereinander, als auch mit den Besuchern, klopften sich gegenseitig auf die Schultern, lachten miteinander und zeigten tolerante Freundlichkeit. Doch sah man genauer hinter das Geschehen, so erkannte man den nackten, skrupellosen Konkurrenzkampf mit dem sich die Verkäufer gegenseitig die Kundschaft vertrieben und sie gleichzeitig durch simple, doch wirkungsvolle Phrasen an die eigenen Waren banden. Schon als kleiner Junge ist ihm dieses seltsame Verhalten aufgefallen, doch mit seiner kleinen, unbefleckten Menschenkenntnis konnte er nicht erahnen, was hier vorging, egal wie sehr er versuchte, sich in die Erwachsenen hineinzuversetzen. Jetzt, da er vom Leben gezeichnet war, wünschte er sich sehnlichst, von alledem nichts zu wissen und mit reinem, ahnungslosen Verstand durch die Welt spazieren zu können. Doch an diesen Problemen der Händler hielt er sich nicht auf, sondern er konzentrierte sich auf ihre mannigfaltigen Waren, die aussahen, als hätten sie alle eine individuelle Geschichte zu erzählen. Das Bier, das er vor wenigen Minuten nahezu in einem Zug geleert hatte, begann nun seine angenehme Wirkung zu verbreiten, gab den alten, funkelnden Gegenständen einen samtenen Schimmer und ließ ihm das lang vergessene Glück eines Flohmarktes wie einen Traum vorkommen. In seliger Vollkommenheit schlenderte er voran, begutachtete mit oberflächlichen Blicken die endlosen Tische voll unscheinbaren Dingen und war dabei so freudig wie seit Langem nicht mehr. Er sah verzweifelte Ansammlungen von defekten, unnützen Gegenständen, die nach chaotischem Schema aufgebaut waren. Da waren vergilbte Bücher, alte Schallplatten, größtenteils defekte Elektrogeräte, abgetragene und ausgewaschene Kleidungsstücke, einige, größtenteils aus dem Realismus stammende Bilder, zahllose Kisten voll kleinen, unverwendbaren Gegenständen und andere, weniger häufigere Dinge, wie Gitarren, Fahrräder oder Kleiderschränke. Beim Großteil der zu verkaufenden Waren, war sowohl den Käufern als auch den Kunden fraglich, wer für diese Dinge ernsthaft einmal Geld bezahlen sollte, doch darin lag einer der besonderen, unterschwelligen Reize des Flohmarktes. Die Kunden schmunzelten heimlich über die Einfalt der Verkäufer, diese Dinge tatsächlich anzubieten, und die Verkäufer nutzen die Magie des Flohmarktes und ihre Eloquenz um ihre Kundschaft zu verzaubern und ihnen schließlich doch etwas anzudrehen. So wanderte Peter von einem Tisch zum nächsten und beobachtete alle Geschehnisse mit großer Aufmerksamkeit. Dabei sprachen ihn sogar manche offensive Händler darauf an, dass er sich doch mal bei ihrem Stand umsehen sollte, doch er war dermaßen in Trance versunken, dass er diese Handlungen gar nicht wahr nahm. Stattdessen beobachtete er verschiedene Väter mit ihren Söhnen, wobei die Jungen andauernd mit anderen faszinierenden Gegenständen die Väter belästigten, was ihn stark an seine eigene Vergangenheit erinnerte. Er sah Großmütter mit ihren Enkelinnen, die gedankenverloren in Puppenhäusern stöberten oder sich würdevoll in verschiedensten Kleidern vor alten Spiegeln drehten und sich dabei selbst begutachteten. Außerdem fand er mehrere Kleinfamilien, ältere Ehepaare und dazwischen waren vereinzelt seltsame Typen unterwegs, die aussahen als würden sie nichts suchen, doch alles finden und die auf die Außenstehenden wirkten, als würden sie aus dem Nirgendwo kommen und sofort hinter dem nächsten Stand wieder für immer verschwinden. Zu diesen gehörte er auch, was ihm allerdings nicht bewusst war. Doch was ihm auffiel, war, dass die Vater-Sohn und Oma-Enkelin Paare am häufigsten vertreten waren, was er sich damit erklärte, dass dies die jeweils einzigen Kombinationen von Familienmitgliedern sind, bei denen beide Teilnehmer wussten, dass der andere sich nicht über die Einkäufe beschweren würde. 
Die letzte Menschensorte, die hier noch anwesend war, waren die Verkäufer. Diese überblickten ihre wertlosen Schätze mit wehleidigen Augen und hatten allesamt mit einem Gewissenskonflikt zu kämpfen, der zwischen dem geschäftsmännischen Verkaufstrieb und dem sentimentalen Festklammern an ihren Besitz ausgetragen wurde. Ihr Leben lang hatten sie gearbeitet und geschwitzt um sich diesen Kram zusammenzukaufen und schließlich kam die große, altersbedingte Einsicht, die sie von der Sinnlosigkeit ihres Besitzes überzeugte und sie schließlich hierher führte. Jeder Tisch erzählte eine eigene Geschichte seines Verkäufers. Sämtliche Gegenstände verrieten ein anderes Geheimnis ihres Besitzers. Doch die erfahrenen Verkäufer verwischten diese schonungslose Enthüllung ihrer nackten Persönlichkeit mit ihren geschickten Redeweisen und lullten jeden Passanten in schöne Worte, sodass sie entweder verlegen weiterliefen, oder noch verlegener stehen blieben um schließlich irgendetwas zu kaufen.
Im nostalgischen Schein unzähliger Relikte aus vergangen, goldenen Zeiten verunsicherten die listigen Händler ihre Kunden bis diese nachgaben und irgendetwas kauften. Am Abend gingen beide Parteien, froh über den Gewinn, den sie gemacht hatten, zurück in ihre reale Welt, verspürten ein flaues Ziehen in der Magengrube und trauerten dabei dem primitiven Handeln, dem spitzfindigen Feilschen und der kindlichen Begeisterung für Lappalien, die hier akzeptiert wurde, hinterher. So ist der traurige Glanz zu beschrieben, den Peter an diesem Ort empfand. Das war das komplette, magische Geheimnis, das sich hinter dem Flohmarkt verbarg, von dem jedoch niemand bewusst eine Ahnung hatte, außer Peter und die wenigen anderen Außenseiter. 
So schlich er teils in kindlicher Freude, teils in melancholischem Beobachten, durch die unbekannten Menschen und begann allmählich bestimmte Stände ins Visier zu nehmen, die ihm besonders reizvoll erschienen. Dem ersten näherte er sich mit möglichst uninteressierter Miene und bückte sich ganz beiläufig unter den Tisch um dem lästigen Gerede des Verkäufers aus dem Weg zu gehen. Einige vielversprechende LP-Covers blickten ihm da unten entgegen, also begann er eine erste Kiste voll alter Schallplatten zu durchforsten. Die Sammlung traf seinen Musikgeschmack ganz gut, so verlor er sich ziemlich schnell zwischen den modrigen Platten und bemerkte nicht, wie der Verkäufer um seinen Tisch herum kam um eine seiner Verkaufsstrategien auf ihn loszulassen. Gerade als Peter eine Platte besonders genau betrachtete und sogar herausnahm um die Rückseite zu begutachten, platzte der Besitzer los: "Sehr gutes Album! Sollte ein jeder in seinem Leben mal gehört haben! Kennen Sie Hunky Dory schon?" Wie eine Seifenblase zerplatzte Peters Scheinwelt, warf ihn zurück in die Realität und ließ ihn hilflos und nackt dort auf dem Boden knien. Verlegen sah er zur Seite in die Richtung des Käufers und stammelte vor sich hin: "Was? Oh ja! Ääh, nein, ich meine Nein, natürlich nicht." Doch ohne Rücksicht preschte der Andere weiter, wobei er wie ein amerikanischer Fastfoodverkäufer grinste. "Na! Das sollten sie aber schleunigst ändern! Auch wenn es mir sehr schwer fallen wird, mich von diesem edlen Stück zu trennen. Sie müssen wissen, das ist eine japanische Erstpressung! In Deutschland ist die eine echte Rarität..." So plätscherte sein geübter Redeschwall dahin, über unzähliges Gerümpel hinweg, in Peters Richtung. Doch dieser hatte längst abgeschalten und war in Gedanken schon abwesend. Ein alter, lange vergessener Schutzreflex hatte sich bei ihm bemerkbar gemacht, den er sich schon in Kindheitstagen auf dem Flohmarkt angeeignet hatte und der immer noch tadellos im richtigen Moment zur Hilfe kam. Sobald er wirres, prahlerisches oder hinterhältiges Gerede eines Halsabschneiders wahrnahm, verschloss sich sein Geist, schottete sich komplett von der Umwelt ab und ermöglichte es Peter, komplett gewissenlos dieser Situation zu entkommen. So missachtete er die Plattitüden, die immer noch über ihn hinabrieselten, steckte dabei die Platte zurück an ihren Platz, stand vorsichtig auf, nuschelte besänftigende, doch ablehnende Worte zu seinem Kontrahenten, und wandte sich schließlich langsam ab und schritt davon, ohne überhaupt darauf zu achten, ob er noch ins Gespräch verwickelt war. 
Hastig zog er davon, ohne auf die Sätze, die ihm noch hinterhergeworfen wurden, zu achten. Mit aufgesetztem Tunnelblick schlängelte er sich durch die Menschen, ohne ein Ziel anzustreben, nur um der Falle zu entkommen. So sehr er die Flohmärkte auch verehrte, dies war ihr großer Schwachpunkt. Sobald man nur den Hauch von Interesse für irgendetwas zeigte, wurde man von den zugehörigen Eigentümern bequasselt, als würde es um ihr Leben gehen. Niemals konnten sie einen in Ruhe lassen und so ist es nicht selten vorgekommen, dass sie ihm durch ihr penetrantes Auftreten den Frieden des Trödelbesuchs zerstörten. Doch für heute war er noch nicht entmutigt; zu lange war er schon nicht mehr hier gewesen. Als er weit genug geflüchtet war, um sich wieder sicher zu fühlen, verlangsamte er seine Schritte und besann sich erneut auf die Ausstellungsstücke. Da war ein Stand, der mit alten, fernöstlichen Blechschalen überhäuft war, die im Sonnenlicht phantastisch schimmerten. Für kurze Zeit blieb er stehen und sah sich das Schauspiel an, das durch seine getrübte Wahrnehmung noch verstärkt wurde. Doch nach wenigen Momenten wurde ihm dabei schwindelig und unwohl zumute, also ging er rasch weiter um sich der ernsthaften Suche nach etwas Brauchbaren zu widmen; schließlich wollte er hier nicht mit leeren Händen verschwinden. Wenige Meter weiter fand er den nächsten Tisch auf dem einige Kisten voll Platten standen. Mit gleicher Taktik schlich er sich unauffällig an und begann sofort seinen Blick zwischen den bunten Covers zu vertiefen. Gespannt griff er sich von einer zur nächsten Platte vor, stets mit der überzeugten Hoffnung in den Fingern, hinter der nächsten Platte eine Perle zu entdecken. Erneut überkam ihn der kribbelnde Reiz des Suchens und des Findens, der bei Männern vom ersten bis zum letzten Lebensjahr stets Auslöser für die glückbringendsten Momente ihres Lebens ist. Aber auch hier wurde ihm diese Freude nicht lange gegönnt. 

"Guter Mann, suchen sie etwas Bestimmtes?" erklang es direkt vor ihm, auf der anderen Seite des Tisches. Verzweifelte Niedergeschlagenheit überfiel ihn, und die Frage, ob es in dieser Welt nicht mehr einen Platz gab, an dem er sich wohl fühlen konnte, stieg sofort in ihm auf. Doch erst wenige Sekunden später erfasste er die Situation komplett und realisierte die weiche, zauberhafte Frauenstimme, die ihn soeben angesprochen hatte. Erstaunt hob er seinen Blick zu der Person die vor ihm stand und fand tiefe, grüne Augen, direkt vor ihm. Da stand eine Frau, wie er sie seit seiner späten Jugend nicht mehr getroffen hatte. Sie hatte eines der hübschesten Gesichter, das er je gesehen hatte, war ungefähr in der Mitte der Dreißiger und strahlte ihn an, als würde sie ihren Ehemann seit Jahren wieder sehen. Ihr dunkelbraunes, schimmerndes Haar glitt weich auf ihre Schultern und stand in besonderem Kontrast zu ihrer blassen Haut. Ihre Lippen hauchten jedem Satz eine unterschwellige, verheißungsvolle Melodie ein und ihre gesamte Ausstrahlung fesselte seinen Blick an sich, wie es in seinem Leben bisher nur eine andere Frau geschafft hatte. Verzaubert stand er da und kam sich wie im Märchen vor. Während er die Frau träumerisch-grinsend anstarrte, fragte sie erneut mit übertriebener Freundlichkeit: "Kann ich ihnen irgendwie weiterhelfen oder wollen sie einfach meine Sammlung durchstöbern?" Dabei begriff Peter gar nicht, dass sie ihm angeboten hatte, ihn wieder alleine zu lassen, was er unter normalen Umständen auch gerne angenommen hätte. Von ihrer vollkommenen Schönheit komplett eingenommen, stand er da und hörte ihre Worte nur ganz leise und gedämpft, als wäre er unter Wasser. Sämtliche Gefühle waren ausgelastet, überschwemmten ihn, berauschten ihn, sodass er für weitere Sinneswahrnehmungen wie betäubt war. Ohne den Sinn eines ihrer Worte verstanden zu haben stammelte er zwanghaft vor sich hin. "Oh, Hallo! Ich glaub ich bin schon fündig geworden, beziehungsweise..eigentlich nicht. Eigentlich suche ich..ähm..wie hieß es doch! Ja, Hunky Dory suche ich! Wobei.." Selbst die Sinnlosigkeit seines Geredes konnte er nicht wahrnehmen, da er von ihrem Glanz geblendet und von ihrer Ausstrahlung überwältigt war. Mit belustigter Fürsorge bemerkte sie seine Verwirrung und kam ihm zur Hilfe: "Oh, Sie stehen auf David Bowie? Da muss ich sie leider enttäuschen. Obwohl ich seine Musik sehr verehre, besitze ich lediglich Station to Station von ihm. Aber bestimmt können sie noch etwas anderes Hübsches in meinem Repertoire finden." Die Worte hallten wie aus weiten Fernen in sein Innerstes. Als würde er in einer der Ecken der riesigen Fabrikhallen von vorhin stehen, und die Stimme der Frau aus einer anderen Ecke erklingen, so kamen die Worte in einzelnen Wellen zu ihm hinübergeweht. Peter wurde lediglich bewusst, dass jemand zu ihm sprach, doch der Sinn ihrer ruhigen, einfühlsamen Worte blieb ihm versagt. Der Zauber, der von den alten Platten ausging, der Alkohol, der allmählich seinen Tageshöhepunkt erreichte und die Offenherzigkeit der Frau, die ihm vertraut entgegengrinste, überwältigten ihn dermaßen, dass er nicht den leisesten Schimmer hatte, wie er nun reagieren sollte. Zwanghaft begann er wieder etwas vor sich hinzustottern, ohne überhaupt zu versuchen, einen Sinn hinter die Worte zu bringen. "Das macht gar nichts, Hunky Dory habe ich sowieso schon zuhause. Dylan darf einfach in keiner Plattensammlung fehlen, meinen sie nicht?" Verdutzt, doch immer noch belustigt, begann die Verkäuferin seine Trunkenheit zu bemerken. "Dylan? Sie meinen wohl David Bowie? Wobei das ja eigentlich auch egal ist, Recht haben sie in beiden Fällen. Nun gut, dann lass ich sie jetzt einfach noch ein bisschen in Ruhe herumstöbern und wenn sie eine Frage haben wenden sie sich bitte an mich." Daraufhin schenkte sie ihm ein letztes, strahlendes, intensives Grinsen und wandte sich ab um am anderen Ende des Tisches einige Holzfiguren zu sortieren. Somit ließ sie Peter hilflos und in tragischer Apathie zurück, unfähig logisch zu handeln. Sein Bewusstsein war weit entfernt, von ihrem Zauber entführt, und unkontrollierbare Gefühle belagerten seinen Kopf, sodass für sinnvolle Gedanken kein Platz war. Für lange Zeiten hatte er derartig starke Gefühlsregungen unterdrückt und nicht zugelassen, aus Schutz vor sich selbst, doch das vorherige Schwelgen zwischen den Platten, hatte ihn unaufmerksam gemacht, sodass er schutzlos von den Reizen der lange vergessenen Frauenwelt überfallen worden ist. Ohne zu wissen was er ursprünglich hier gesucht hatte, was sie ihm gesagt hatte oder was er nun machen wollte, zog er sich in der Manier seiner frühen Jugendjahre, in denen er nie verstand, mit Frauen umzugehen, wortlos zurück. Die Kiste mit den Schallplatten ließ er unaufgeräumt zurück, was die Besitzerin zwar bemerkte, doch kommentarlos und mit einem mitfühlenden Lächeln akzeptierte, da sie sein Veralten mit seiner Trunkenheit erklärte. In Trance wandelte Peter weiter, gewann mit zunehmender Entfernung zur Frau seine kognitiven Fähigkeiten wieder zurück und begriff allmählich die vergangene Handlung. Eine Mischung aus Scham und Selbstverachtung überkamen ihn, als er sein törichtes Verhalten erkannte. Wieso war er selbst im Alter noch nicht fähig, mit Frauen ein normales, bodenständiges Gespräch zu führen? Wieso missachteten ihn die meisten Leute und wieso versaute er es sich bei den wenigen, die es nicht taten? Sein alter Schulfreund mit seiner Frau, die Wirtin in der hübschen Kneipe und schließlich die nette, bezaubernde Dame auf dem Flohmarkt, alle hatten sie ursprünglich gute Absichten, waren ihm freundlich gestimmt und trotzdem hatte er es zustande gebracht, sich derart zu beschämen, dass er sich bei keinem von ihnen jemals wieder blicken lassen konnte. Diese Fragen beschäftigten ihn, allerdings nur sehr oberflächlich, denn sein Empfinden war größtenteils noch von der Ausstrahlung der Frau paralysiert. So ging er, trotz dieser Gedanken, stetig voran und wurde schon bald vom nächsten Verkaufsstand angezogen. Hier war der Besitzer mit einigen anderen Kunden beschäftigt, sodass sich Peter ungestört der Plattensammlung widmen konnte um sich in ihr zu verlieren und damit seinen Fauxpas zu vergessen. Oberflächlich durchblätterte er die alten Kisten, wobei er nicht die Feierlichkeit empfand, die er beim Stand zuvor empfunden hatte, da sein Geschmack bei dieser Sammlung nicht sehr gut getroffen wurde. Erwartungslos, doch trotzdem vergnügt arbeitete er sich durch die Kisten, fand dabei die nötige Entspannung die nach dem jüngsten Erlebnis arg nötig war und genoss die bedingungslose Freude, die man hier haben durfte. Da huschte ganz plötzlich zwischen den ganzen unbekannten Schlagerplatten ein bekanntes Cover unter seinen Fingern hindurch, wobei er vorerst nicht erkannte um welches Album es sich dabei gehandelt hatte. Es war doch immer wieder möglich, selbst in der nutzlosesten Sammlung einen kostbaren Schatz zu finden. Nervös blätterte er zurück, fand die Platte wieder und zog sie voller Erwartung heraus, wobei ihm bewusst wurde, dass es sich dabei um Obscured by Clouds von Pink Floyd handelte. Parallel dazu erwachten in ihm eine Unzahl alter Erinnerungen, die ihn mit dieser Platte verbanden. Es war eines seiner absoluten Lieblingsalben. Kennen gelernt hatte er es zuhause bei seiner ersten Jugendliebe, deren Vater einen Plattenladen besessen hatte. An dem Tag, als das Album erschienen war, war er nachts extra zu ihr gegangen, sie hatten sich beide in den Laden des Vaters geschlichen, der seiner Tochter das Hören von Rockmusik strengstens verboten hatte, und hatten im Schein einer Kerze zum ersten Mal die verheißungsvollen Klänge dieses Meisterwerks gelauscht. Das war der Beginn eines heimlichen Rituals, das die beiden daraufhin einführten. Dieser Nacht folgten unzählige weitere, in denen sie im verbotenen Laden diese Platte hörten, zaghafte Küsse austauschten, sich vorsichtig ihren Gefühlen hingaben und nichts wussten, außer, dass diese Liebe unendlich war. Doch wie alle Luftschlösser, die im kindlichen Leichtsinn erbaut werden, wurde auch dieses vom brutalen Gang der Zeit zerstört. Ihre Wege trennten sich durch ungeahnte Zufälle für immer und mit ihnen auch Peters Verbindung zu der Platte. Im Herzen trug er die bedeutungsvollen Klänge noch immer mit sich, doch gehört hatte er sie seit ihrer Trennung nicht mehr. Dadurch bekam der Fund des Albums an diesem enttäuschenden, trostlosen Tag eine nahezu schicksalhafte Bedeutung. Beim ersten Erblicken der LP schloss er sie in sein Herz um sie nie wieder herzugeben, zu viele Erinnerungen hingen an ihr. Instinktiv stand er auf und ging zum Besitzer um den Kauf so schnell wie möglich abzuschließen. Dieser war jedoch noch mit den anderen Käufern beschäftigt, also vertrieb sich Peter die Zeit damit, in nervöser Vorfreude auf seinen Erwerb, durch den Rest der Sachen auf diesem Tisch zu sehen. Neben altem Spielzeug aus den Sechzigern und mittelalterlichem Werkzeug fand er noch eine Kiste voller Bücher. Er wusste, dass in seinem Leben kein Platz war, um sich Lektüren zu widmen, trotzdem sah er sich die Kiste durch, da er mit dem Rest der angebotenen Dinge noch weniger anfangen konnte. Er kniete sich nieder, stellte die Schallplatte zwischen seine Knie, wobei er sie mit zufriedenem Grinsen erneut betrachtete und fing dann an, die Bücher mit halbem Interesse durchzusehen. Er war nicht wirklich belesen. Auch wenn er sich grundsätzlich für Literatur interessierte, machte sein Lebensstil das ernsthafte Lesen von Büchern unmöglich. Einige Autoren erkannte er, von den meisten hatte er jedoch noch nie etwas gehört. Zufällig zog er einige Werke heraus, durchblätterte sie, las sporadisch ein paar Absätze und genoss dabei den alten, modrigen Geruch, den ihre vergilbten Seiten ausdünsteten. Schon früher hatte er diesen Duft, den auch die älteren Schulbücher ausstießen, geliebt. Für diese Dinge hatte er schon immer einen besonderen Sinn gehabt. Während die Durchschnittsmenschen den Geruch gar nicht ernsthaft wahrnahmen, sondern sich lediglich auf den Sinn der Buchstaben konzentrierten, war es für ihn ein entscheidender Faktor, der dem Lesen erst den übersinnlichen Charakter verlieh, der es so reizvoll machte. In diesem Duft steckten Alter, Ewigkeit, Weisheit. Er gab dem Leser eine Ahnung von dem Zeitraum, den das Buch schon überstanden hatte, der sich in den Seiten abgesetzt hatte und dort für immer geheimnisvoll festhing. Dies war der Geruch von Zeit, dachte Peter in andächtiger Würde, während der Verkäufer auf ihn zukam um sich ihm zu widmen. "Kann ich ihnen weiterhelfen?" fragte er mit monotoner Stimme. Sofort war Peter wieder bei der eigentlichen Sache, legte das Buch zurück, griff nach seiner LP und drückte sie dem Verkäufer in die Hand. "Die hier will ich mitnehmen!" verkündete er stolz und sah dem Verkäufer erwartungsvoll in die Augen. Darauf teilte ihm dieser den Preis mit, wobei er großen Wert darauf legte, seine Güte und Großzügigkeit zu betonen, diese Platte für einen so geringen Preis zu verkaufen, was jedoch Peter nicht die geringste Aufmerksamkeit schenkte. Zu sehr war er mit Vorfreude und Stolz auf seinen Erwerb erfüllt, als dass er sich auf das profane Gerede der Geschäftsmänner hinabgelassen hätte. Ohne weiter zu handeln oder sich zu unterhalten, zahlte er den Preis und nahm das Album wieder zu sich, um es nie mehr aus den Händen zu geben. Er bedankte sich und ging mit knabenhafter Begeisterung davon. Nun hatte der verfluchte Tag doch noch einen so glücklichen Verlauf finden können. Mit seinen Blicken mehr auf die Schallplatte als auf den Weg gerichtet, schlenderte er umher, ohne Verlangen, ohne Orientierung, ohne Ziel.  Während er in Gedanken in den vielen warmen Erinnerungen schwelgte, die das Album in ihm hervorriefen, machten sich aber auch langsam seine Schwäche und seine Müdigkeit bemerkbar. Es war mittlerweile Nachmittag geworden. Er hatte seit der vorletzten Nacht, außer seinem Nickerchen in der Kneipe seines Freundes Andreas, nicht mehr geschlafen, was ihm aber auch gar nicht wirklich bewusst war. Er wusste lediglich, dass er eine kurze Pause nötig hatte um wieder zu Kräften zu kommen. Also wandte er seine Aufmerksamkeit seiner Umgebung zu, in der Hoffnung eine angenehme, ruhige Sitzgelegenheit zu finden. Und tatsächlich stand nur einige Meter weiter, etwas abseits, am Rande des Flohmarktes, ein schöner, älterer, gepolsterter Ohrensessel, der anscheinend zum Verkauf gedacht war. Als Besitzerin fand er eine sympathische Frau seines Alters und fragte sie ob er sich für einen kurzen Moment darin ausruhen könnte. Es stellte sich heraus, dass auch diese Frau ihm sehr freundlich zugewandt war, denn sie empfing ihn mit großer Herzlichkeit und bot ihm ohne zu zögern die Sitzgelegenheit an, denn sie konnte ihm seine Erschöpfung deutlich ansehen. Dankend ließ er sich nieder und spürte erst im Moment der Entspannung seine schmerzenden Glieder und seine arge Müdigkeit. Er war froh über die Freundlichkeit, die ihm auch hier entgegengebracht wurde, über die Erholung, die er nun bekam und am meisten doch immer noch über die Schallplatte, die er schützend in seinen Armen hielt. Glückselig ließ er sich in die alten Polster zurückfallen, die ebenfalls, wie die Bücher, nach Zeit rochen, schloss die Augen und spürte den Alkohol, der sanft und warm sein Gehirn durchströmte. Es dauerte nur wenige Momente, da sank er in friedlichen, wohltuenden Schlaf und vergaß sämtliches Geschehen, das sich um ihn herum abspielte.