Sonntag, 19. Januar 2014

Stegreifauf-Sage, Teil 2/3

BAM! Zwei kräftige Hände packen mich mit mechanischem Griff an den Knöcheln und reißen mich zurück in den Klassenraum. Das wohlige Refugium aus verschwommener Wahrnehmung und surrealen Gedanken zerplatzt sofort, schmeißt mich in die harte Stuhllehne und wirft mir ein Schaufel voll gnadenloser Realität ins Gesicht. Sofort setzt das obligatorische flaue Prüfungs-Ziehen im Magen ein und sogar ein Kater meldet sich noch in Form eines stumpfen Drückens hinter der Stirn zu Wort. Der muffige Klassenzimmergeruch, der logische Lehrerweisheit und sublime Schülergenialität kombiniert, der unmögliche Kleidungsstil meines Vormannes und die totale Präsenz unseres Lehrers, alle Sinneseindrücke, die bis jetzt so poetisch überlagert wurden, werden urplötzlich und zum ersten mal seit Freitagnachmittag wieder fühlbar. Es dauert einige Augenblicke bis ich die Flut an Eindrücken bewältigen kann, dann fokusiert mein Blick unseren Lehrer, in der Hoffnung, aus seinem Handeln und seiner Physiognomie Hinweise auf das, was mir bevorsteht, finden zu können. Doch ihn umgibt dieses transzendente Geheimnis, das jeden Mathelehrer umgibt, der nicht nur mit dem von ihm verlangten Unterrichtsstoff des Lehrplans vertraut ist, sondern auch weit darüber hinaus über die fachliche Materie bescheid weiß. Für einen durchschnittlichen Schüler, wie ich es einer bin, wird so ein Mathelehrer immer ein ungelöstes Phänomen sein, ein mystizistisches Fabelwesen, das nur in einem Paralleluniversum, dem Matheunterricht, existiert. Also versuche ich mich an die Klassenkameraden zu wenden, die sich in meiner Reichweite befinden. Allerdings hatte ich am Anfang des Schuljahres in weiser Voraussicht meinen Sitzplatz so gewählt, dass ich möglichst viel Distanz zu den Strebern habe. Die Rechnung dafür muss ich in solchen Momenten bezahlen: Um mich herum geht alles komplett drunter und drüber. Mein direkter Nebenmann füllt gerade seine Krankenmeldung aus um spontan heimzugehen, vor mir diskutieren zwei Mitschüler in höchster Verzweiflung über das bevorstehende Massaker und mögliche Mittel zur Dezimierung der Folgen desgleichen. Zwischen den beiden liegt der strubbelige Kopf eines Anderen auf dem Tisch, der immer noch nicht realisiert hat was hier vor sich geht und zwei noch weiter vorne Sitzende hechten in Richtung der Tür, was bei der Dramatik, die sie dabei an den Tag legen, beinahe so wirkt, als würde es der letzte Klogang ihres Lebens werden. Der Rest derjenigen, die mit mir im gleichen, untergehenden Boot sitzen, blicken resignierend unter den Tisch, wo sich ihr Smartphone befindet, in dessen Cyberwelt sie zu flüchten versuchen. Ganz vorne rechts jedoch, genau am anderen Ende des Klassenzimmers und damit für mich außer Reichweite, sitzen die gut Vorbereiteten mit ihren löschbaren Füllern, räumen gelassen ihre Bücher ein und packen Taschenrechner, Lesebrille und Dextroenergys aus, nehmen einen letzten Schluck Waldfruchttee aus der Sportlerflasche und wenden sich dann kommentarlos, aber mit euphorischem Grinsen, an den hinteren Teil der Klasse, um uns Rauchern indirekt zu zeigen, wie viel besser man die Pausen doch nutzen könnte. Währenddessen streift unser Lehrer gelassen durch die Bankreihen und teilt mit hinterlistiger Miene seine Zettel aus. Für mich bleibt die Zeit stehen. Die Gesichter meiner Mitschüler, das Ticken der Uhr, die spöttische Miene unseres Lehrers und die Szenerie vor dem Fenster, alles zusammen schwört eine apokalyptische Stimmung herbei, die mich fast physisch spüren lässt, dass meine nahe Zukunft nichts gutes verheißen wird. Während ich einen letzten Schluck Wasser trinke und mit diesem rituell versuche, dieses ekelhafte Gefühl wie eine lästige, ölige Schicht einfach abzuspülen, durchzittert die dominante Stimme des Lehrers den Klassenraum: „Ihr könnt loslegen! 20 Minuten ab jetzt, viel GlückkKkk!“ Das verzerrte Grinsen, das sich auf seinem Gesicht befindet, während er seinen Blick auf das Pult sinken lässt, verrät mir, dass er bewusst das Wort ‚Glück‘ gewählt hat. Er weiß wie es mit der Mathematik um unsere Klasse steht, der Hund. Aber das alles tut jetzt nichts mehr zur Sache. Die bescheuerten Sozial-Klassen von gegenüber, die aktuellen Charts und mein Kater, alles wird in diesem Moment nichtig und versinkt in meinem tiefen, dunklen Hinterkopf. Ich richte den Blick auf das Aufgabenblatt und beginne.
„Gegeben ist die Funktion f(x). Ermitteln sie den Definitionsbereich, Nullstellen inkl. deren Vielfachem und die Asymptoten von Gf.“
Nun gut. Nenner mit Null gleichsetzen. Zuerst ausklammern, dann die Zwei nach drüben multiplizieren. x^2 kürzt sich raus usw. Unerwarteterweise beginnt alles ziemlich gut. Es ist nicht oft der Fall, dass ich auf Anhieb den Ansatz und den Rechenweg so problemlos hinbekomme. Von mir selbst begeistert, rechne ich locker weiter, komme von einem Schritt in den nächsten und bekomme ein leichtes Gefühl von Hoffnung, dass diese Ex einmal nicht schlecht enden wird. Doch wie durch Zauberhand machen sich mit der Zeit die 2x^3 immer mehr selbständig. Als hätten sie Füße bekommen, wandern sie auf die andere Seite, krabbeln in den Nenner, verdoppeln sich, rutschen zwischen zwei Betragsstriche und verbarrikadieren sich somit immer mehr im Labyrinth der Zahlen. Zu Beginn lasse ich sie außer Acht, rechne geschickt um sie herum und löse den Rest so gut wie möglich auf. Aber nun ist der Moment gekommen, an dem kein Weg mehr an ihnen vorbeiführt. Direkte Konfrontation mit dem Feind, eins gegen eins auf dem Karoblatt. Ich jage sie in den Taschenrechner und malträtiere sie nach allen Künsten der kleinen Mathematik. Hier eine Division, dort eine Addition und da eine Wurzel-Falle. Ekstatisch verliere ich mich mit meinen Kontrahenten zwischen den Rechenschritten, verstricke die Algebra mit der Realität und ohne es bewusst zu merken, teile ich das Argument durch Null. Der Taschenrechner schreit mir laut ‚ERROR‘ entgegen, entreißt sich meiner Hand und flüchtet ins entfernteste Eck meines Tisches. Auf meinem Blatt lösen sich die Zahlen voneinander, beginnen zu hüpfen und entrinnen sukzessiv meiner Macht. Alle stürzen sie mir entgegen, alle desertieren sie um ihren großen Schöpfer zu stürzen. Die Ziffernschar kämpft sich an mir empor und dringt, oben angekommen, in meinen Verstand ein um die totale Vewirrung zu stiften. Sie jagen in meinem Kopf umher, krächzen wilde Vorwürfe, was mir einfalle ihr gesamtes Machwerk durch Null zu teilen. Wie ein wild gewordener Bienenstaat sausen sie durch meinen Kopf, durch die Synapsen und an die Schädeldecke und treiben mich in nervösen Wahnsinn. Um nicht vom Stuhl zu kippen lasse ich mich in die Stuhllehne fallen und schließe die Augen um zu sehen ob sich dieser Albtraum wirklich abspielt. Sofort stoppt das Gekreische der Zahlenarmada, doch ich kann spüren wie sie sich über meinen Rücken in die Flucht stürzen. Mein Rückenmark erschaudert vor dem kalten, schleimigen Gefühl, dass sie dort hinterlassen. Ganz langsam und zäh, wie schmelzendes Speiseeis gleiten die Zahlen dort hinunter in mein Gewissen. Unfähig zu handeln, verharre ich in dieser Stellung bis sie alle dort unten angekommen sind. Sollen sie doch! Mein Gewissen brauche ich jetzt sowieso nicht. Allmählich, ganz sanft, wie der Sonnenuntergang die Nacht über den Tag legt, spüre ich wie die Vorwürfe der Zahlen den Bissen meines Gewissens weichen. Die Gefühlswippe kippt um und beschwört die nächste Unruhe hervor. Doch diese kann und muss ich sogar unterdrücken. Zu viel Zeit habe ich mit diesem surrealen Erlebnis verschwendet. War es überhaupt ein Erlebnis, oder doch nur ein Flashback mit dem sich das letzte Wochenende zurückgemeldet hat? Egal, es gilt Aufgabe 2 zu lösen bevor alles zu spät ist.

„Zeichnen sie den Graphen Gf in ein Koordinatensystem. Berechnen sie außerdem ob Gf symmetrisch zum Ursprung ist. Falls ja, zeichnen sie Gf ebenfalls in das Koordinatensystem.“ Das sollte machbar sein. Lineal, Bleistift, Konzentration und los geht’s. x-Achse zeichnen, y-Achse zeichnen und beide Achsen kartesisch beschriften. Wertetabelle erstellen, Punkte übertragen, Punkte verbinden, der erste Teil ist erledigt. Doch die Symmetrie des Graphen zum Ursprung rechnerisch zu ermitteln macht mir schon etwas mehr zu schaffen. Ich durchforste die Erinnerungen an die letzten Unterrichtsstunden, in der Hoffnung über Verwertbares zu stolpern. Alle möglichen Sachen kommen mir dabei entgegen, von vielen hatte ich nicht mal mehr gewusst, dass ich so etwas schonmal gehört habe, doch etwas hilfreiches lässt sich eben doch nicht finden. Ab und an lodern zu meinem Schrecken zwischen den Polynomdivisonen und Abszissen kurze Erinnerugsfetzen von den vergangen Wochenenden auf. Kurzzeitig erschrecken sie mich, werfen mich aus dem Konzept, doch ich schaffe es, sie rechtzeitig zu verdrängen und mich meiner eigentlichen Aufgabe wieder zuzuwenden. Nach fünf Minuten begreife ich, dass ich so nicht weiterkomme. Notgedrungen blicke ich auf mein Arbeitsblatt, vertiefe meinen Blick auf die Koordinaten, die Achsen und auf den Ursprungspunkt. Meine letzte Hoffnung besteht darin, durch irgendwelche Winkelbezüge, Abstände und andere Zusammenhänge einen Geistesblitz zu bekommen um das ganze aus dem graphischen ins schriftliche transkribieren zu können. Mit zusammengekniffenen Augen starre ich auf meinen Zeichnung und konzentriere mich immer mehr auf den Ursprung. Meine Augen tränen, die Linien verschwimmen und werden undeutlich, die Zahlen werden unleserlich. Langsam öffne ich die Augen etwas um die Klarheit und den Überblick zurückzugewinnen. Die Zahlen offenbaren sich mir und die Linien erzittern langsam wie Bassseiten, straffen sich allmählich und liegen schließlich wieder regungslos auf ihren zugehörigen Kästchenreihen. Plötzlich erzittern sie ein zweites mal, diesmal sogar etwas stärker und nicht so geordnet wie zuvor, sondern eher unförmig wie eine Fahne im Wind. Ich beuge mich über das Blatt und zwinkere zweimal um die Tränenflüssigkeit zu verdrängen, doch die Bewegungen meiner Linien werden zusehends ärger. ‚Verfluchter Scheiß, das kann doch nicht sein! Was geht hier vor?‘ denke ich, greife halb perplex, halb angepisst zu meiner Flasche und nehme einen kräftigen Schluck Wasser. ‚Ganz ruhig, es kann sich nur noch um Minuten handeln, nimm dich nochmal zusammen!‘ motiviere ich mich in letzter Verzweiflung selbst und wende mich vorsichtig meinem Blatt zu. Doch das Schauspiel, dass meine Striche dort zum besten gaben, hat sich sogar noch sublimiert. Im Moment sind die Geraden, Parabeln, Asymptoten und Punkte dabei einen Regenschirm zu formen. Alles streckt, verzerrt und verschiebt sich. Die y-Achse biegt sich am unteren Ende bei -3 um 90° und wird anscheinend zum Schirmstiel umfunktioniert. Die x-Achse positioniert sich am oberen Ende der y-Achse, biegt sich sanft nach unten und bildet somit die zentrale Strebe des Schirmgespanns. Flink eilen einige Asymptoten hinzu, reihen sich jeweils um 45° versetzt dazu ein und schließlich schlängelt sich mein schöner Graph nach oben, schwingt sich um die äußeren Enden der x-Achse und der Asymptoten und bildet damit den Stoffbezug. Den Feinschliff übernehmen meine Zahlen, die sich bunt durcheinander gemischt auf dem Stoffbezug verteilen und ein wildes Mathematikmuster darbieten. Entsetzt überfliege ich, was aus meiner ursprünglich ganz brauchbaren Stegreifaufgabe geworden ist. Die erste Aufgabe ist komplett verschwunden, hat nur noch einige Radiergummischmierer zurückgelassen und meine Parabel, die ich als Graph Gf so schön zwischen die drei Asymptoten in mein kartesisches Koordinatensystem geschmiegt habe, hat sich allen Ernstes zu einem formschönen Schirm mit Zahlen-Stoffbezug verformt. Das alles ist definitiv zu viel für einen Montagmorgen. Es ist noch nicht einmal 11 Uhr und ich erlebe Dinge, wie sie sonst nur Samstagfrüh um 3 Uhr passieren. Während ich verzweifelt über den Anblick vor mir lächeln muss, beginnt der Schirm sich ein weiteres mal zu regen. Ganz locker schwingt er sich auf, stellt sich auf seinen Stiel und versucht anfangs nur sich auszubalancieren, doch das fällt ihm nicht schwer. Prompt fängt er an von hier nach da zu hüpfen, ganz leicht wie eine Feder stößt er sich ab und schwebt etwas weiter. Hin- und her, dorthin und zurück rotiert er umher und sein Treiben nimmt  immer mehr Form an. Das Getänzel geht in einen graziösen Walzer über, für den er das komplette Parkett meiner Stegreifaufgabe ausnutzt. Graziös gleitet er umher, dreht sich um die eigene Achse, schwingt seinen Schirm, biegt sich, streckt sich und tanzt sich selbst in Ekstase. Ich starre ausdruckslos auf das Geschehen das sich auf meinem Arbeitsplatz abspielt und überlege ob ich den Schirm mit einem kräftigen Schlag stoppen und zerstören soll, oder mich melden und den Lehrer fragen soll, ob ich meine ‚Arbeit‘ abgegeben und an die Frische Luft gehen kann. In diesem Moment hat sich der Schirm in die höchstmögliche Rage getanzt und hebt ab. Er hebt einfach ab. Zuerst schwebt er zwei Zentimeter über dem Tisch, dann saust er nach oben vor mein Gesicht, verharrt in dieser Stellung und ich bilde mir ein, er schaut mir in die Augen und will sich verabschieden. Dann schwebt er ein Stück wegwärts, vollführt eine adrette Drehung und gleitet langsam, wie von einem zarten Windhauch getragen, von mir weg in Richtung der Zimmerdecke. In mir regt sich plötzlich ein Trieb ihn zurückzuhalten, ich habe schließlich ein Recht auf Besitz dieses Schirms, ich bin sein Entwerfer, sein Zeichner, sein allmächtiger Herr, der über Form, Handeln und Existenz dieses Werkes entscheiden darf. Ohne zu Überlegen springe ich auf und hasche nach ihm. „NEIN, bleib hier!“ Ich bekomme ihn am Griff zu fassen und umgreife ihn fest entschlossen, doch er scheint von konstanter, unabänderlicher Kraft fortbewegt zu werden, ohne irgendwie von seinem Vorhaben abgebracht werden zu können. Loslassen ist allerdings auch keine Option für mich. Kontinuierlich zieht er mich mit, hebt mich vom Stuhl hoch, drückt mich nach vorne an den Tisch. Dieser beginnt zu kippen, meine Utensilien kommen ins Rutschen und fallen klappernd nach und nach zu Boden. Schließlich fällt der Tisch mit einem lauten Rumsen um und ich hebe ab. Erschrocken blicke ich umher, doch meine Mitschüler und selbst der Lehrer scheinen nichts davon mitbekommen zu haben. Sie sind wohl alle zu intensiv mit ihren aktuellen Aufgaben beschäftigt, denke ich. Mit zarter Kraft zieht der Schirmgriff an meiner Hand und treibt mich kontinuierlich dem Schirm hinterher nach oben. Unten kann ich beobachten wie meine Banknachbarn ihre unzähligen Fehler begehen, einige davon bemerken sie selbst und lassen sie vom Radiergummi wieder aufsaugen. Zwei der Streber sitzen schon entspannt und zurückgelehnt in ihren Stühlen, ihr Meisterwerk bewundernd, an das nachmittägliche Computerspiel denkend. Allmählich verschwimmen die Konturen des Klassenraums, Schriften werden unleserlich und einzelne Mitschüler kann ich nicht mehr auseinander halten. Verwundert stelle ich fest, dass der Schirm uns auf eine Höhe jenseits der Klassenzimmerdecke gehoben haben muss. Wir befinden uns in einem hohen Schacht, der nach oben endlos scheint und unten mit unserem Zimmer endet. Und stetig geht es weiter gen Unendlichkeit nach oben. Mit der Überlegung nach Hilfe zu schreien blicke ich nach unten um potentielle Helfer finden zu können, aber im Klassenraum ist die Situation mittlerweile auch eskaliert. Dort unten wogt ein großes Meer aus Zahlen und Formeln, Grafiken und verloren gegangen Koordinaten. All meine Klassenkameraden schwimmen darin umher, schreien selbst nach Hilfe und wissen selbst nicht mehr wo oben und unten ist. Ein heftiger Sturm tobt dort unten, der die Zahlenbrandung kräftig gegen die Wände bersten lässt. Doch hier oben bei uns ist alles ruhig. Stetig und dadurch auch irgendwie angsteinflößend schleppt mich der Schirm auf seiner großen Reise hinter sich her. Ich überlege, ob ich, würde ich einfach loslassen, unten noch unversehrt ankommen könnte, oder ob die erreichte Höhe zu hoch war, um sicher vom Meer aufgefangen werden zu können. Mir fällt ein, dass ich die Dichte des Zahlenmeeres noch gar nicht kenne, die ja viel höher sein könnte als die von Wasser. Zahlen an sich sind ja ein ziemlich unförmiges Gebilde, das müsste darauf schließen, dass der Aufprall um ein Vielfaches härter als beim Wasser sein müsste. Aber andrerseits, wenn ich bedenke, dass… „So meine Herrschaften, Zeit ist um! Stifte weg! Wer jetzt noch schreibt, dem tut’s mir leid!“ Der Griff des Schirms bricht ab, lässt den Schirm nach oben und mich nach unten rasen. Mit Höllengeschwindigkeit ziehen die Wände an mir vorbei, der Wind schießt mir ins Gesicht, es zieht mir Tränen seitlich aus den Augen, die mit dem Wind, tangential an meinem Kopf vorbei, nach oben hinweg gleiten. Exponentiell vergrößert sich das Klassenzimmer. Ich kann erkennen, dass sich das Meer ungewöhnlich schnell glättet. Die Wellen schwingen nicht nur aus, es scheint als ob sie gespannt und von unsichtbarer Hand künstlich geglättet werden würden, wie ein Bettlaken von einer Hausfrau. Meine Klassenkollegen zieht es wie Marionetten zurück auf ihre Plätze, die Zahlen aus dem Meer sammeln sich und strömen wie lauter separate Mückenschwärme zu ihren Besitzern auf die Blätter zurück. Ich bin nicht mehr weit von dort unten entfernt. Zum freien Fall kommt eine leichte schräge Kraft hinzu, die mich in Richtung meines Sitzplatzes drängt. Rasend durchdringe ich die langsam wieder sichtbar werdende Klassenzimmerdecke und schlage schließlich ganz sanft auf meinem Stuhl auf. Ich zucke hoch und blicke umher. Nervös frequentiert mein Blick, in der Angst, sie würden mich alle entgeistert ansehen, jeden meiner Kameraden, doch bis auf das obligatorische Geschwätz, dass stets nach Abgabe einer Prüfung in einer Klasse einsetzt, lassen sie sich keine Besonderheit anmerken. Verständnislos streiche ich mir mit beiden Händen durch die Haare, sie sind schweißbenässt. Was war das? Wie konnte so etwas passieren? Habe ich geschlafen? Schlafe ich immer noch? Mein Hintermann klopft mir auf den Rücken. „Gehste mit rauchen? Wir haben Pause!“ Für ein paar Sekunden kann ich noch den Aufschlag der zwei vorderen Knöchel seiner Faust auf meinem Rücken spüren. Kurze Augenblicke später sind sie schon verklungen, doch ich habe sie gespürt, dessen bin ich mir sicher. Das hier ist kein Traum, kein Fieberwahn und auch kein Flashback. Ich bin bei vollem Bewusstsein. Aber was habe ich da erlebt..? … „Ja, ich komme mit!“

Dienstag, 7. Januar 2014

Stegreifauf-Sage, Teil 1/3

Schwere, prunkvolle Autos gleiten mit monotonem Rauschen über den Asphalt. Es ist die Zeit an einem werktäglichen Morgen, zu der der kleine Mann von der Nachtschicht in den unruhigen Schlaf verfällt, zu der die breite Masse der mittelständischen Familienväter gerade die erste Frühstückspause genießt und zu der die selbstgefälligen Großverdiener, gut erholt, ihre 95 Kilogramm Wohlstandsspeck mit einer Tonne Auto zur Arbeit befördern. Die Xenon Scheinwerfer verlieren mit dem fortschreitenden Morgen ihre Notwendigkeit, blinzeln kurz und gehen aus, die Straßenlaternen erlöschen auch und nach kurzer Zeit haben mich all die kleinen nächtlichen Begleiter im Rampenlicht des Lebens zurückgelassen…geblendet, vulnerabel und nackt. 
Baritonales Gemurmel erfüllt den Pausenhof; der Rauch meiner Zigarette vermischt sich mit dem frühherbstlichen Nebel zu einer heterogenen Masse. Leere, verzweifelte Blicke suchen einander, in der Hoffnung Halt zu finden…vergebens. Es ist Montagmorgen, erste Schulpause des Tages, und ich bin noch immer auf der Suche nach der verloren gegangenen Zeit.
In mir herrscht diese desolate Stimmung, die sich stets nach großen, vergangenen Ereignissen auf das Gemüt legt und einem den Boden unter den Füßen wegzieht. In Situation wie diesen wird man eins mit der Zeit, man existiert ausschließlich. Logisches Handeln wird unmöglich, denn das Bewusstsein ist weit entfernt, es hängt irgendwo zwischen den strahlenden, goldenen Erinnerungen an das Vergangene und einer Ahnung an die bevorstehende, graue Zukunft; die höchste Form der Melancholie, unantastbar für andere Gefühlsregungen.
Unbewusst spüre ich, dass es dem Großteil der anderen Schüler genauso ergeht. Von unserer Gruppe geht ausschließlich ein leises Summen aus; einzelne Gesprächsfetzen, Lappalien, die miteinander konvergieren und dieses dumpfe Summen erzeugen das fast einem Winseln gleicht, einem Winseln nach Amnestie vor dem großen mächtigen Richter.
Wir alle sind am Wochenende um ein paar Geschichten älter geworden, haben Wunder erlebt und mit den Sternen getanzt; manche haben Zeit verloren, manche haben Zeit gewonnen, wir alle waren wieder draußen im Kosmos, an der Grenze des Möglichen, an der Schwelle zur Unendlichkeit und wir alle haben wieder ein Stück Jugend verloren. Blauäugig stürzten wir uns in den Wettlauf gegen die Zeit und wurden am Ende von der Realität eingeholt.
Hier sind wir nun wieder, der Schwung ist raus, die Spannung verloren. Es ist der große Fall nach dem Hoch. Träume zerplatzen, Visionen vertrocknen und härten aus. Schleppend kommt die Realität zurück, nimmt Konturen an und wird nahezu greifbar. Unser gemeinsam errichtetes Schloss aus Hoffnungen versinkt im Treibsand des Lebens.
Hier auf dem Schülerparkplatz finden wir uns alle wieder, ganz langsam, Stück für Stück und ganz unbewusst. Jeder ist noch in seiner eigenen kleinen Welt. Die ersten beiden vorangegangenen Schulstunden sind längst vergessen. Unwiderruflich verschwimmen die letzten Erlebnisse und verfliegen schon kurz darauf im Wind. Wer die Jugend weise nutzt, vergisst die Alltagsbegegnungen und schafft Platz im Kopf für die Momente jenseits von Zeit und Raum…
Der Großteil unserer Gruppe starrt ausdruckslos ins Leere, als würden wir noch Schlafwandeln oder als hätten wir soeben die Todesnachricht von drei engen Bekannten bekommen. Andere blicken schmerzverzerrt und mit der Nervosität eines Junkies auf Entzug umher; sie wirken, als hätten sie Angst, ihren Blick auf einem konkreten Gegenstand haften zu lassen. Sie alle werden gerade von der aufschäumenden Rache des Lebens vergewaltigt, der große Richter fordert Tribut. Doch ein paar Ausnahmen gibt es. Ab und an kann man ein Gesicht erhaschen, aus dem ein romantisch-schelmisches Grinsen funkelt. Die Typen stehen genauso regungslos, isoliert und schweigsam herum wie der Rest, jedoch dringt ein perverses Grinsen aus ihnen heraus, dessen sie sich selbst gar nicht bewusst sind. Und genau diese paar Typen sind es, die noch komplett im Jenseits sind. In ihnen kitzelt noch der Drang nach mehr, atmet noch der durstige Wolf und glimmt noch die infantile Seele…noch! Bald wird die Ernüchterung einsetzen. Die Knie werden weich werden und die Hoffnungen verglimmen und dann stürzen sie mit uns hinab…zurück zu den Sterblichen. 
Die verhaltene, anonyme Stimmung, wie sie sonst nur Sonntagfrüh auf Autobahnrastplätzen herrscht, wird von der Schulglocke zerrissen. Schrill und erbarmungslos bringt uns das Läuten der Gravitation ein weiteres Stück näher. Mein kalter Körper erschaudert in der kalten Morgenluft. Ein Ruck geht durch die Rauchergruppe, die Zigaretten verglühen und allmählich kommt die träge Masse in Schwung und wird wie durch einen Sog zum Eingang hingezogen. Auf dem Weg dorthin nehme ich stellenweise Gesprächsfetzen der Anderen auf: "Hoffentlich fragt sie Unit 3 noch nicht ab…", "Jetzt hab ich null Bock auf dem seine linearen Gleichungssysteme..", "Wann war die endgültige Kapitulation nochmal?",… Arme Hunde. Einige wenige sind anscheinend schon wieder zurück, haben im Alltag Fuß gefasst und halten den großen ganzen Schulmechanismus am Laufen, in der Hoffnung, wir würden bald zur Unterstützung eilen…vorerst auch vergebens.
Wie Soldaten beim Morgenappell schlurfen wir geistesabwesend und in Reihe und Glied in das Klassenzimmer. Mit hysterischen Gesten und wildem Gerede empfangen uns dort die Versager unserer Klasse, die ihre Pause damit zugebracht haben über mögliche Stegreifaufgaben- und Abfragethemen zu debattieren. Zwar gibt es in unserer Klasse keine Ausgrenzung oder Mobbing, aber inoffiziell ist allen klar, mit wem es sich lohnt abzugeben, und mit wem nicht. Jeder weiß, dass diese verschrobenen Typen keinen sozialen Vorgarten besitzen, dass sie nie einer Frau hinterherschauen würden und vor allem wie ihre Wochenenden ablaufen. Jetzt, Montagmorgen, stürzen sie sich auf uns, voller Lebenslust und Tatendrang, mit ihren Brillen und ihren ausgewaschenen Kapuzenpullis, um uns mit ihren wilden Hypothesen des Schulalltags zu bedrängen. Doch ich ducke mich unter allen hindurch, visiere einen Stift auf meinem Tisch an und taumle in Richtung desselben. Währenddessen schwirren mir wirre Gedanken durch den Kopf, die unsere Klassenstreber hervorgerufen haben. Diese Typen gehen nie unter Leute, geschweige denn feiern und erstrecht gehen sie nie aus sich heraus. Sie sind immer bei vollem Bewusstsein, am Nerv der Zeit und stets bereit zu handeln. Sie nehmen vom Leben viel mehr wahr als wir und doch verpassen sie das Meiste. Die Ironie des Lebens überwältigt mich immer wieder auf's neue… Doch jetzt ist kein guter Zeitpunkt um in derartige Gedankengänge abzudriften, deshalb lasse ich schnell davon ab um nicht komplett durchzudrehen. Lautlos sinke ich auf meinen Sitzplatz, greife nach dem Stift und lasse mich sanft von meinen eigenen, persönlichen und vor allem ungefährlichen Gedanken in Trance wiegen. So ist das gut, so muss das sein. Ich starre zum Fenster hinaus, beobachte wie sich der Pausenhof leert und nehme meine verträumten Gleichgesinnten, die aufgekratzten, übermotivierten Freaks und den eintretenden Lehrer, gar nicht wahr. Vor dem Fenster herrscht Aufbruchsstimmung. Die letzten Schüler verlassen den Pausenhof um in den Unterricht zurückzukehren und der Sommer ist damit beschäftigt, mit all seinen Untertanen und Begleitern zusammenzupacken und abzuziehen. Der Luft nimmt er den Duft, den Vögeln die Lebensfreude, der Stadt die Sympathie, den Blumen ihr Antlitz und den Blättern ihr Blattgrün. Alles wendet sich zum schlechten. „…den Stoff der letzten Stunde durchzulesen und ein paar Aufgaben zur Polynomdivison zu rechnen…“. Das Präludium unseres Dirigenten der großen Mathematikoper streift nur an meinen Ohren vorüber, berührt sie leicht, aber wie eine Biene, die einer Blüte sofort ihre Unfruchtbarkeit ansieht, ziehen die Worte gleich weiter ohne auch nur den Ansatz einer Empfängnis zu versuchen. 
Genau diese Wochen im Frühherbst, in denen der Sommer sogar noch größtenteils dominiert und den Bäumen ihr mannigfaltiges Schauspiel auf die Blätter pinselt, genau diese Wochen sind die schlimmsten des ganzen Jahres. Zwar ist das Klima noch angenehm und die Natur lädt noch auf Vergnügungen ein, jedoch pocht tief im Hinterkopf schon die leise Vorahnung dessen, was uns nun für das nächste halbe Jahr bevorstehen wird. Alle Späße und Freuden der letzten Monate werden in den goldenen Herbstwochen begraben, für immer verschütt, unwiederbringbar. „…können doch nicht einfach das Vorzeichen vertauschen?! Sowas darf ihnen nicht mehr passieren, das muss in ihre Köpfe…“. Egal welche Freuden der vergehende Sommer für mich auch immer gebracht hat, in dieser Herbstzeit hat man immer den Eindruck zu wenig aus den warmen Tagen rausgeholt zu haben. Eine gefährliche Zeit, diese Herbstwochen. Vor allem für Liebende! Wer eine ehemals leidenschaftliche Beziehung ausgerechnet in diesen Herbsttagen gegen die Wand fährt, für den wird es nicht einfach werden! „…euer Buch auf Seite 57 auf und lest euch den roten Kasten…“. Liebeskummer entblößt uns, macht uns verwundbar und zeigt uns von unserer innersten, verletzlichsten Seite. In solch einem Zustand sollte man nicht mit trostlosen Aussichten und vergänglicher Schönheit konfrontiert werden. „…also packt eure Sachen weg, wir schreiben eine Stegreifaufgabe." ...