Sonntag, 14. September 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 4/4

Für Peter blieb die Zeit stehen. Er entschwand allen irdischen Lasten, indem er in seine Traumwelt überging, in der er vor allem Bösen sicher war und in der er immer und überall sorglos fröhlich sein konnte. Sein Leben, der Flohmarkt und sogar die Schallplatte verloren an Bedeutung, wurden zu nichtigen, menschlichen Dingen und wurden von den berauschenden Erlebnissen seines Schlafes in den Schatten gestellt, doch die Zeit lief mit unermüdlichem Pflichtbewusstsein auch ohne seine Aufmerksamkeit hinfort, sodass der Abend mit großen Schritten heranrückte. Die nette Frau, die ihm erlaubt hatte, auf ihrem Sessel Platz zu nehmen, hatte sein Schlummern schnell bemerkt, doch amüsierte sie sein Ausnüchterungsschlaf viel mehr, als dass sie ihn hätte wecken mögen. Vergnügt und beglückt darüber, einem Bedürftigen etwas gutes tun zu können, beobachtete sie zwischen ihren Geschäftsabhandlungen den Schlafenden, dessen friedliche Gesichtszüge und tiefe Atmung ihr zeigten, dass seine Erholung dringend nötig war. Die Platte hatte sie ihm aus den Armen genommen, damit er sie nicht zerquetschte und über seine hageren Beine hatte sie eine braune Wolldecke gelegt, damit er auch am späteren Nachmittag nicht zu frieren begann. So lag er nun da, vollkommen vom Schlaf eingenommen, in den Tiefen seiner geistigen Welt versunken. Die Stunden schwanden dahin, Besucher kamen und gingen, kleines Geld wechselte seine Besitzer. Die Sonne sank flach von ihrem Zenit aus in Richtung Westen und die Stadt beruhigte sich mit dem heranrückenden Abend vom sonntäglichen Treiben, das sich unbemerkt in den Vorstadtstraßen verlor. Es war schon spät, während die letzten Sonnenstrahlen schräg über die Häuser herfielen und den aufbrechenden Flohmarkt in stilles, schimmerndes Licht tauchten, als Peter durch die duftende Kühle der Abenddämmerung erwachte. Desorientiert blinzelnd sah er um sich, wobei man an seinen Augen erkennen konnte, dass seine Erinnerung noch nicht mit ihm zurück im Sessel war, sondern noch in den Weiten der Traumwelt umherirrte. Die letzten Stände und Tische, die noch hier standen, waren ihm jedoch eine gute Erinnerungsstütze, sodass er bald wusste wo er sich befand. Jedoch kamen ihm sämtliche andere Umstände, wieso es abends war, wieso er hier in einem Sessel saß und wieso er geschlafen hatte, nicht von selbst zu Bewusstsein. Hilfesuchend, in der Hoffnung weiteres zu erfahren, blickte er umher, denn um aufzustehen war er noch nicht kräftig genug. In größerer Entfernung fand er hie und da beschäftigte Verkäufer, die ihren letzten Krempel wieder zurück in die Autos luden, doch die meisten von ihnen waren schon zuhause und die heute Nachmittag noch belebte Parkplatzfläche war nahezu verstummt. Der große, leere Platz wirkte durch das Fehlen der Menschen und durch das seltsame, abendliche Licht befremdend auf Peter. Er begann in nächster Nähe nach Hinweisen auf seine Geschichte zu suchen, doch hier war nicht viel brauchbares zu finden. Eigentlich waren alle Stände um ihn herum schon abgebaut und verschwunden, lediglich neben seinem Sessel standen ein paar wenige Kisten voll zusammengewürfelten Gegenständen die aussahen als ob sie entweder vergessen waren oder jeden Moment abgeholt werden würden. Niedergeschlagen, und von seiner Unwissenheit unangenehm bedrückt, beugte er sich zur Seite um die Sessellehne herum, um den restlichen Platz ebenfalls zu Gesicht zu bekommen. Da kam zwischen den goldenen Sonnenstrahlen eine Frau über den leeren Platz auf ihn zugelaufen, deren Gesicht er aufgrund des Lichtspiels nicht erkennen konnte. Halb erschrocken und halb erfreut wandte er sich wieder nach vorne, um auf die geheimnisvollen Unbekannten zu warten, von der er hoffentlich mehr über seine Lage erfahren würde. Sie kam um den Sessel herumgelaufen, begrüßte ihn mit einem bekannten, herzlichen Blick, den er in seiner müden Erinnerung sofort wieder erkannte; dann reichte sie ihm eine Flasche Wasser hin. "Na da schau einer an! Sie sind tatsächlich noch einmal von alleine aufgewacht! Da haben Sie aber Glück gehabt, denn ich hätte Sie jetzt sowieso aufwecken müssen, es ist schon ziemlich spät geworden. Hatten sie denn einen erholsamen Schlaf?" Diese Sätze sprach sie mit einer Fürsorge und Zuneigung, als hätte es sich bei Peter um ihren Sohn gehandelt. Von derartiger Freundlichkeit überwältigt, versuchte Peter ihr eine angemessene Antwort zu geben. "Oh ja, natürlich, dankesehr! Sie müssen entschuldigen, es tut mir wirklich leid, dass ich hier eingeschlafen bin und Ihnen dadurch so zur Last gefallen-" Da unterbrach sie Peter mit mütterlicher Bestimmtheit indem sie ihm entgegnete: "Nein, nein, nein. Gar nichts muss Ihnen leid tun, mein Lieber! Wissen Sie, es ist mir immer wieder eine Freude Leuten helfen zu können. Und den Sessel hätte ich heute sowieso nicht verkauft, den schleppe ich schon seit Jahren mit mir herum. Jetzt trinken Sie erst einmal, dann sind Sie wieder bestens erholt." Wortlos folgte er ihrer Anweisung, trank einen kräftigen Schluck Wasser und stand anschließend auf, um wenigstens jetzt der netten Dame nicht mehr im Wege zu sein. Darauf bot er ihr als Entschuldigung an, den Sessel mit ihr zum Wagen zu tragen, wobei sie die Entschuldigung ablehnte, das Angebot jedoch dankend annahm. Flink packte er mit an um die Sache schnell hinter sich zu bringen; die ganze Situation war einfach zu unangenehm, um sich noch unnötig länger hier aufhalten zu müssen. Während die beiden zum Auto liefen, erzählte die Frau ihm noch die restlichen Umstände, die dazu geführt hatten, dass er jetzt am Abend noch hier draußen im Industriegebiet fest saß, denn sie waren ihm bis jetzt immer noch nicht eingefallen. Als alles verstaut war, suchte Peter sich schnell zu verabschieden um dieser maßlosen Peinlichkeit zu entkommen. Ihr Angebot, ihn mit in die Stadt zu nehmen, lehnte er ohne nachzudenken ab, gab ihr schließlich zum Abschied die Hand und wandte sich ab, um zu gehen. Doch nach wenigen Schritten schrie sie ihn noch einmal zurück. "Ach halt, warten Sie! Hier haben Sie doch noch ihre Schallplatte, die hätten wir jetzt beinahe vergessen." Überrascht kehrte er um, nahm die Platte entgegen und mit ihr kamen sämtliche Erinnerungen an den Tagesablauf wieder zu ihm zurück. Erst jetzt, als er über die letzten Stunden wieder bescheid wusste, nahm seine Beschämung die höchste Form an. Am liebsten wäre er an Ort und Stelle im Boden versunken oder überfahren worden, alles wäre besser gewesen, als in Anwesenheit dieser Frau seine Vergangenheit auf diese Weise zu erfahren. Mit dem Blick auf das Cover gerichtet, drehte er sich ein letztes Mal von ihr weg, wagte es nicht mehr ihr in die Augen zu sehen und lief davon. Sie war einfach zu gütig zu ihm, wenn man überlegte, was sie wegen ihm durchmachen musste. Da war den ganzen Tag ein alter, verkommener, stinkender Trinker auf ihrem antiken Sessel gekauert, hatte womöglich die Kundschaft verschreckt und angewidert und jetzt, als er am Ende des Tages seinen Rausch ausgeschlafen hatte, trug sie ihm noch ihr Wasser und seinen vergessenen Besitz hinterher. Das war falsch, das war nicht recht, sie hätte ihn dafür verfluchen, bestrafen und anschließend für immer hinfort schicken sollen, so dachte Peter, aber anstatt dessen empfing sie ihn mit offenen Armen und wollte ihn sogar noch nach Hause fahren. Aufgrund dieser Umstände fühlte er sich miserabel schlecht, fühlte sich des Lebens unwürdig und fühlte sich vor allem, als könnte er schleunigst ein kühles Bier gebrauchen. Mit aufgebrachtem Gemüt trat er im verklingenden Sonnenuntergang seinen langen Fußmarsch in Richtung der Innenstadt an, wobei er die Freuden des Nachmittags längst vergessen hatte. Auch die Ärgernis über sich selbst war schnell Vergangenheit, denn bald hatte die Sucht ihn komplett eingenommen, hatte ihm Verstand und Gefühle geraubt und ließ ihn als ein getriebenes Wesen zurück, ein Tier, das seinem Verlangen unterlegen war und nun auf Leben und Tod auf Nahrungsbeschaffung war.

Die ruhigen Fassaden der Fabrikgebäude setzten sich samt ihren hohen Schornsteinen schwarz im rötlichen Himmel ab, Vögel zwitscherten aufgeregt durch die dunklen Straßen; ein letztes Mal gab sich der Stadtteil der erholsamen Nacht hin, bevor morgen die Maschinen wieder angeschmissen wurden, damit die Industrie ihrer Pflicht nachgehen konnten. Auch die junge Wohnsiedlung war in friedliches Schweigen gehüllt. Die Straßen waren leer, in den Vorhöfen der gepflegten Grundstücke lagen noch vereinzelt Spielsachen umher, die alle auf ihre eigene Art und Weise die Geschichte eines fröhlichen Sonntages erzählten. Frischer, intensiver Duft drang aus den Beeten und Hecken der Gärten und schwängerte die Luft der gesamten Straße mit romantischem Dunst, den man in den kleinen Gassen und breiten Straßen der Innenstadt niemals zu riechen bekam. In den Häusern sah man glückliche Familien, die gerade zusammen aßen, ihre Kinder ins Bett brachten oder schon in lieblicher Zweisamkeit bei einem Glas Rotwein auf der Terrasse saßen und den sinnlichen Geheimnissen der Erwachsenen nachgingen. 
Es war eine gute Stunde um spazieren zu gehen und all diese Eindrücke zu sammeln, zu erleben und sich an ihnen zu erfreuen, doch Peter hetzte mit verbitterter Miene und eiligen Schritten durch die Straßen, komplett seinen Trieben unterworfen und nichts von alledem mitbekommend. Seine Wahrnehmung lief auf absoluter Sparflamme, ließ bloß die Dinge in sich aufnehmen, die zur Befriedigung der Sucht nötig waren und ignorierte alle anderen Eindrücke, die vom Erreichen des Zieles ablenkten. In Momenten wie diesen lebte er schon nicht mehr, sondern funktionierte nur noch, wie ein hilflos Verwundeter, der sich schonungslos auf seine innersten Instinkte verlässt um dem Tod durch Verbluten zu entkommen. Blindlings ließ er sich führen, schottete sich von allem ab, übergab seinen Körper und Geist komplett der höheren Macht, die ihn skrupellos dirigierte.
Auf diese Weise war es möglich, dass ihm der Zeitraum seines Fußweges, nur wie eine kurzer Augenblick vorkam. Kaum hatte er sich leidvoll auf dem Industrieparkplatz in Bewegung gesetzt, schwanden schon seine Sinne dahin, retuschierten sein Umfeld und machten Platz für die Intuition, von der er sich bis in die Innenstadt führen ließ. Erst als er in die Straße einbog, in der sich Andreas' Kneipe befand, kam sein Empfinden zurück und ließ ihn erkennen, dass sein Ziel schon in greifbarer Nähe war. Gleichzeitig bekam er aber auch wieder die Entzugserscheinungen zu spüren, die an allen Enden seines Körpers zerrten. Ein dumpfes, physisches Verlangen zog durch sämtliche seiner Glieder bis in den Kopf, wo es die geistige Leere mit brennendem Wahnsinn erfüllte. So schnell ihn seine steifen Knochen tragen konnten, hastete er die Straße entlang durch die einzelnen Lichtkegel der Laternen, während sich sein Blick krankhaft-verzweifelt auf die Leuchtreklame der ersehnten Kneipe fixierte. Schließlich kam der Moment, in dem er den alten Eisengriff der Tür zu fassen bekam, ihn nach unten drückte und wie ein Wilder in den Gastraum stürzte.
Die Kneipe war gut gefüllt, Andreas selbst saß pausierend bei Bekannten mit am Tisch und allgemein herrschte rege Unterhaltung, sodass Peters rasantes Eintreten nicht allzu viel Aufsehen erregte. Ein paar wenige Stammgäste grüßten ihn, auch Andreas winkte ihm zu, doch dies konnte er alles nicht beachten. Zielbewusst strebte er den Ausschank an, legte seine Schallplatte auf den Tresen und schon befand er sich mit einem Krug am Zapfhahn, den er mit irrsinnigen Augen dabei beobachtete, wie er das Bier mit außergewöhnlicher Langsamkeit ergoss. Sobald der Krug annähernd zur Hälfte gefüllt war, führte er in gierig zu seinem Mund, wobei er parallel dazu gleich den nächsten unter den fließenden Hahn hielt. Hustend, schäumend und sabbernd flößte er sich sein erstes Glas Bier ein und vergaß alle Welt um sich. Schon nach wenigen Sekunden konnte er die himmlische Entspannung spüren, die sich in ihm ausbreitete, die den Schmerz linderte und die für ihn Freude und Lebensinhalt definierte. Nach wenigen Zügen war der Krug wieder leer worauf er sich dem zweiten widmete.
Andreas saß während der ganzen Zeit noch am Tisch bei seinen Freunden, doch hatte er sich aus dem Gespräch ausgeklinkt und beobachtete stattdessen Peters Verhalten sehr aufmerksam, da er aufgrund des verspäteten Auftauchens zum Ausschankdienst schon böse Vorahnungen gehabt hatte. Er hatte noch keine Ahnung, was sich wirklich abgespielt hatte, doch konnte er an Peters Verhalten erkennen, das sein Leben einmal mehr aus den Fugen geraten war. Verzweifelt und mitleidig sah er seinem alten Jugendfreund dabei zu, wie er den Alkohol regelrecht in sich hineinstürzte, während ihm bewusst war, dass er nichts machen konnte. Einzig positiv war, dass Peter zu so später Stunde noch nicht komplett besoffen war, was definitiv eine Ausnahme darstellte, doch konnte man ihm dies nicht zu hoch anrechnen, da er ja gerade dabei war, mit allen Mitteln dieses Defizit auszugleichen. Erst heute früh hatte er ihn schweren Herzens stockbetrunken nach Hause schicken müssen, um ihn jetzt unter diesen Umständen wieder zu empfangen. Es war nicht leicht mit anzusehen, doch war er es ja gewohnt. Tägliche Enttäuschungen werden irgendwann nichtig, ständige Ausnahmen werden mit der Zeit zum Alltag, die Routine stumpft den Mensch ab und lässt ihn vergessen. So erhob sich Andreas um seinen Freund und Mitarbeiter zu begrüßen. 
Peter, dem es nach dem zweiten Glas Bier schon viel menschlicher ging, sah Andreas auf sich zukommen und ergriff sogleich die Initiative, da ihm bewusst wurde, dass er viel zu spät erschienen war. "Grüß dich! Mensch, entschuldige! Ich hab mal wieder komplett die Zeit vergessen... tut mir Leid. Bist du bis jetzt auch gut ohne mich zurecht gekommen?" Sein Chef winkte beschwichtigend ab, griff ihm um die Schulter und versuchte dabei ungezwungen locker zu wirken. "Na logisch, mach dir keinen Kopf. Passiert uns doch allen mal, oder? Wie war dein Tag? Woher kommt der große Durst?" Peter, der mit den zwei Bieren genau die Alkoholmenge intus hatte, die ihn sozial am verträglichsten werden ließ, empfand sofort Beschämung darüber, dass sein Kumpel sein übertriebenes Trinkverhalten bemerkt hatte. "Ach..weißt du. Ich war heute auf dem Flohmarkt und habe die Zeit etwas vergessen. Ehe ich mich umsah, ist es dunkel geworden und ich war immer noch draußen bei der alten Maschinenfabrik. So kam es, dass ich den gesamten Tag nichts getrunken hatte...und daher mein Durst." Diese glimpfliche Geschichte erleichterte den Wirt, der sich aufgrund seiner Erfahrung schon auf eindeutig schlimmere Szenarien gefasst gemacht hatte. "Ahja, schön, schön. Daher auch die Platte, hm?" Erst in diesem Moment kam Peter sein stolzer Erwerb des Tages wieder in Erinnerung. Erfreut sah er die Platte da liegen, griff nach ihr und betrachtete sie mit kindlicher Freude zum ersten mal ganz genau. Begeistert hielt er sie auch Andreas hin, damit er sie begutachten konnte. Doch dieser interessierte sich gar nicht wirklich für die LP. Peters gute Stimmung und seine gesprächige Verfassung, die eine seltene Ausnahme darstellten, erfreuten ihn und ließen in ihm erneut eine Hoffnung auf Besserung erwachsen. Nur um Peter nicht zu enttäuschen gab er ihm trotzdem begeistert Antwort: "Hey, Pink Floyd! Nicht schlecht, nicht schlecht! Wie du weißt konnte ich die zwar noch nie wirklich leiden, aber das Album kenne ich noch gar nicht. Ich würde sagen, die legen wir gleich mal auf, wenn die aktuelle Scheibe zu Ende ist, oder?" Beglückt von dieser Idee, nahm Peter die Platte zurück, stellte sie hinter dem Tresen ins Regal und bat Andreas doch wieder zurück zu seinen Freunden zu gehen, da er jetzt vorerst den Bardienst übernehmen würde. Doch sein Freund hatte noch etwas einzuwenden: "Mache ich gleich, eine Frage habe ich noch: Was hast du denn heute früh, nachdem du von hier gegangen bist, noch gemacht? Ich habe vorhin beim Einkaufen den David getroffen, du weißt schon, deinen alten Klassenkameraden. Er hat mir erzählt, du hättest dich heute früh beim Rathaus rumgetrieben und hast miserabel ausgesehen? Bist du nicht direkt heim gegangen?" Verlegen wandte sich Peter ab und begann notgedrungen Gläser durch das Spülbecken zu ziehen. "Ach, der übertreibt doch wieder. Ja, ich bin noch nicht direkt nach Hause, weil es mir nicht so gut ging. Ich dachte, die frische Luft würde mir gut tun. Dann habe ich noch eine kleine Runde durch die Stadt gedreht und ihn getroffen. War aber nichts besonderes. Die Zeit nagt doch an uns allen, er sieht auch längst nicht mehr so frisch aus wie einst mit zwanzig Jahren. Der soll sich um seine eigenen Probleme kümmern..." Darauf wusste Andreas nichts mehr zu sagen. Zwar spürte er, dass hinter der Sache mehr steckte als Peter hier offenbarte, doch er wusste nur zu gut, dass er besser nicht tiefer in die Wunde bohrt, um eine unnötige Eskalation zu vermeiden. Also gab er klein bei, akzeptierte die Version der Geschichte und begab sich wieder zu seinen Stammgästen. Als Peter seinen Freund zurück am Tisch, in das Gespräch vertieft fand, füllte er seinen Krug erneut, gönnte sich davor noch einen kurzen Kräuterbitter und wandte sich dann ernsthaft seiner Arbeit zu, spülte die Gläser und ging dann und wann von Tisch zu Tisch um auch den Durst der Gäste zu stillen. Dabei erfreuten ihn die Vertrautheit mit den Gästen und die kleinen, aber wichtigen Aufgaben die er hier übernahm um den Laden am Laufen zu halten, sodass er sich selbstverloren seiner Tätigkeit hingab, bis er das Verstummen des Plattenspielers wahrnahm. Sofort holte er voller Vorfreude seine LP, enthüllte sie zum ersten Mal und legte sie schließlich auf den Plattenteller, der sie treu und erwartungsvoll entgegennahm. Mit entzückter Feierlichkeit legte er den Arm sanft auf die schwarze Scheibe, was jedes Mal aufs Neue wie ein magisches Ritual war. Das obligatorische, leise Knistern erfüllte kurz den Raum, schwächte wieder ab und schließlich schwoll langsam, doch stetig das altbekannte, vertraute Dröhnen an. Peter schloss die Augen, stütze sich mit beiden Händen auf das Pult und genoss mit historischer Ergriffenheit wie der Schlagzeugbeat und schließlich die kreischenden Gitarren einsetzten, die er seit späten Jugendjahren nicht mehr gehört hatte. Die Musik erfüllte ihn, nahm seine Aufmerksamkeit komplett in Anspruch und ließ ihn Freuden spüren, die ihm lange versagt gewesen waren. In seinem Geist durchwanderte er unbekannte und doch altvertraute Welten, die die Musik in ihm heraufbeschwor. Er sah sich selbst in frühen Jahren wie er seine Freundin beim Bäcker kennen lernte, wie sie sich anfreundeten und sich immer näher kamen, und schließlich, wie er sie im Laden ihres Vaters zum zweiten Mal kennen lernte, diesmal richtig. Es war wie ein Flashback zurück, in alte, heile Tage in denen die Zeit bedeutungslos war und die ganze Welt in hoffnungsvollem Glanz leuchtete. Mit dem Verstummen des ersten Liedes schwand auch der erste, überwältigende Zauber wieder von seinen Gliedern. Grinsend öffnete er die Augen und fühlte sich dabei wie ein neugeborener Mensch. Für lange Zeit hatte er nicht mehr gewusst, wie mächtig und fesselnd diese Lieder waren, umso mehr ergriffen sie ihn jetzt. Vom Zauber der Platte überwältigt, wandelte er hinter den Tresen, suchte sich eine Zigarette und ging nach draußen um all die Gefühle zu sortieren, die sich plötzlich in ihm regten. Er schnappte sich einen Stuhl, klemmte den Holzkeil in die Tür um die Musik auch draußen weiter zu hören und setzte sich vor den Eingang auf den Gehsteig. 
In der Straße war es totenstill, lediglich die verheißungsvollen Melodien drangen von innen nach außen und verklangen schnell in der friedlichen Dunkelheit. Kalte Luft wehte seicht durch die Häuserreihen, doch die Wände strahlten kontinuierlich ihre gespeicherte Wärme ab, sodass es sich trotzdem gut verweilen ließ. Über den Häusern ruhte kühl und unergründlich der klare Sternenhimmel. Die tiefe Stille der schlummernden Kleinstadt tat Peter gut, denn in seinem Kopf überschlugen sich Erinnerungsfetzen, Gefühle und Gedanken. Dass er diese Lieder nach so langer Zeit wieder hörte, ließ ihn zum ersten Mal seit dem Unglück seiner Frau und seines Sohnes wieder den unaufhaltsamen Gang der Zeit begreifen. Seit diesem tragischen Einschnitt in sein Leben hatte er sich jeden Tag erneut in den Rausch geflüchtet und dadurch selten Gelegenheit dazu bekommen, über so tiefgründige Dinge nachzudenken. Die letzten Jahre konnte er in tröstlicher Unwissenheit zubringen, ohne sich über irgendetwas Gedanken machen zu müssen. Jeder Tag war nach selben Schema zwischen Schlaf, Arbeit und Rausch dahingeplätschert. Selbst wenn es Veränderungen in seinem näheren Umfeld gegeben hatte, wurden sie bald vergessen oder verdrängt, sodass er sich über die Jahre hinweg ein sicheres Refugium angelegt hatte, in das er seinen zerbrechlichen Charakter sanft einbetten konnte. Doch jetzt, als er in verhältnismäßig geistiger Klarheit die alten, bedeutungsvollen Melodien zu hören bekam, überfielen ihn all diese Dinge auf einen Schlag, die seit Jahren in den Tiefen des Alkohols unterdrückt worden waren. Nun, als er durch den zeitlosen Klang alten Lieder wieder ein Gefühl für die Zeitspanne bekam, die seit dem ersten Hören schon vergangen war, als ihm wieder bewusst wurde, welch enormen Zeitraum sein Leben schon umfasste, in dem er doch noch nichts Nennenswertes erreicht hatte, da fiel sein geistiges Refugium wie ein großes Trugbild über ihm zusammen. All die verlorenen, verschwendeten Jahre kamen ihm zu Bewusstsein, in denen er nichts getan hatte, als dem Leben zu entflüchten, anstatt sich von ihm fangen und mitreißen zu lassen. Wo war die Zeit hingelaufen? Wo war die Jugend hingerannt? Wo war sein Leben hingeschwunden? Diese Fragen kamen in Form von großen Vorwürfen auf ihn nieder und lasteten bedrückend auf ihm. Schwere Niedergeschlagenheit überkam ihn wie ein großer, angestauter Schwall aus zehn Jahren unterdrückter Midlifecrisis. Er versank in seinen eigenen Vorwürfen, verlor seine Umwelt aus den Augen, bekam unbändigende Lust sich sofort ins Vergessen zu trinken, sein Leben schwankte zwischen ausweichloser Endstation und hoffnungsvollem Neubeginn. Seine surreale Welt brach zusammen während sie sich aus ihren Trümmern neu erbaute. Und in diesem Moment der zerstörenden Verzweiflung, der aufbrausenden Hoffnung, der innerlichen Entzweiung, verstummte im Innenraum der Kneipe die Musikanlage, holte kurz Luft für die nächsten Töne und stimmte schließlich die ersten Klänge des dritten Liedes von Peters Platte an. Verschwommen, und doch gleichzeitig so klar, wurden sie durch die hitzigen Gespräche des Kneipenraums nach draußen befördert, suchten Zuflucht im kalten Raum der düsteren Straße, und fanden sie in Peters Gehör. Sofort begriff er, dass er nicht nur hilflose Musik, sehnsüchtige Melodien der Jugend oder altersehnte Lieder hörte. In diesem Moment ergriff ihn sein jahrelanger, alltäglicher Begleiter, den er stets mit sich getragen hatte, den er in jedem, in wirklich jedem Moment, seines traurigen Trinkerlebens bei sich hatte. Es waren die Melodien, zu denen er zum ersten mal die leidenschaftlichen, feuchten Geständnisse seiner Freundin zu hören bekam. Es waren ebenso die Klänge, zu denen er im Plattenladen des Vaters seine Jugendliebe die ersten Zärtlichkeiten der Frauen erfahren hatte. Und es waren auch die Klänge, die ihm am Morgen dieses wirren Tages verhängnisvoll durch die Gehirnwindungen geschallt waren, die er zu dem Zeitpunkt jedoch noch nicht deuten konnte. Wie ein großer Schwall an Lebensfreude stiegen die Töne in ihm auf, erfüllten seine verwirrten Gedanken mit strukturierter Klarheit und gaben seinem Wesen den Frieden zurück, den er über all die Jahre im Unterbewusstsein gesucht hatte. 

"Bridges burning gladly,
merging with the shadows,
flickering between the lines."


Die ersten Worte schwebten erlösend nach draußen und hauchten ihm den Schleier von seiner Wahrnehmung, der ihn seit Jahren belastete und ihm suggeriert hatte, das Unvergessliche vergessen zu können. All diese schweren, großen Wörter und Zeilen waren seit seiner Jugend in seinem Kopf gefangen gewesen und begleiteten ihn auf sämtlichen Holzwegen seines Lebens, doch bewusst ist er sich ihnen nie geworden; im Gegenteil war er die ganze Zeit indirekt auf der Suche nach ihnen gewesen. Auf schicksalhaften Wegen kamen diese Melodien und Texte jetzt wieder zu ihm zurück und überrumpelten ihn auf erfrischende, beglückende Weise. Zum einen zeigten sie ihm in ziemlich brutaler Art, wie viel er von seinem Leben schon verspielt hatte und vor allem wie sinnlos er die letzten Jahre vergeudet hatte, doch hauptsächlich begriff Peter durch die alten Lieder und ihren unglaublichen Weg, den sie zu ihm zurückgenommen hatten, wie unberechenbar jeder Moment ist, und wie schnell sich alles wieder ändern kann. Er begriff, dass es niemals zu spät ist, solange man an sich selbst glaubt und sich nicht widerstandslos seinem Schicksal hingibt. Dass ihm, trotz dem er sich selbst längst aufgegeben hatte, dieses Wissen doch noch gewahr wurde, erfüllte ihn mit gewisser Ehrfurcht und auch mit dem Bewusstsein, in einer Pflicht zu stehen, dem Leben etwas zu schulden und zurückgeben zu müssen. Von dieser Erkenntnis überwältigt saß er wie gelähmt vor der Kneipe in der einsamen Nacht. Drinnen saßen die gleichen Leute, ihn umgaben die gleichen, alten, bekannten Häuser, auch die Sterne wirkten alt und vertraut, doch für Peter war in diesem Augenblick nichts mehr beim Alten. Alles war frisch, strahlte vor grenzenlosen Möglichkeiten und machte Hoffnung auf die Zukunft. Intuitiv ergriff er sein Bier, das am Boden stand, stellte es auf seinen Beinen ab und sah es ehrfürchtig an. Hier war der Teufel, der ihn für den Großteil seines Lebens begleitet hatte und der dafür verantwortlich war, dass es so kam wie es gekommen war. Verfluchen konnte er den Alkohol trotzdem nicht, denn schließlich hatte er beim Verlauf dieses Tages auch maßgeblich seine Finger im Spiel gehabt und war also dafür mitverantwortlich, dass er jetzt hier mit diesen neuen Erkenntnissen saß. Doch Peter war sofort klar, dass dem ganzen hier und jetzt ein Ende gesetzt werden musste. Es gab keinen anderen Weg, als seine Brüderschaft mit dem Alkohol für immer zu zertrennen. In sentimentaler Stimmung nahm er einen Schluck Bier und war sich währenddessen bewusst, dass dies das letzte Bier seines Lebens sein würde. Er war bereit, alles herzugeben und sich komplett von allen alten Gewohnheiten zu trennen um endlich eine wahre Heimat für seine wüste Seele zu finden. Gedankenversunken rauchte Peter die Zigarette zu Ende, trank das Bier aus und ging dann mit lange unterdrückter Heiterkeit und Lebensfreude zurück in die Kneipe. In seinen Augen funkelte dabei etwas neues, verheißungsvolles, das bis dahin noch nie jemand an ihm entdeckt hatte. Und dieses Funkeln war die Aussicht auf eine goldene Zukunft, war wiedergewonnene Lebensfreude, war bedingungslose Zuversicht und war das schelmische Grinsen der Wissenden, die das Leben verstanden hatten. So ging er als ein neuer Mensch in die alten, gleichen Räume mit den alten, gleichen Personen und ihren alten, gleichen Angewohnheiten zurück. Doch zum ersten Mal tat er dies mit dem Wissen im Hinterkopf, dieser Welt schon gar nicht mehr anzugehören, ihr für immer entflohen zu sein und ab sofort mit jedem Schritt einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Die Wandlung war vollbracht.