Montag, 14. April 2014

Im Schatten der Nacht, Teil 3/3

Marie war ein stummes Mädchen. Seit wann und wieso wusste Thomas nicht. Eines Nachts hatten sie sich in einem finsteren, abgelegen Winkel der Stadt getroffen. Der anfängliche Schreck der beiden, zu später Stunde einen Gleichaltrigen in diesem menschenleeren Teil der Stadt vorzufinden, ging schnell zu vorsichtigem Respekt über, der im Laufe dieser Nacht zu latenter Zuneigung wurde. Sie verabredeten sich wieder für die nächste Nacht und dann wieder für die nächste Nacht und über die Monate hinweg wuchsen sie fest aneinander, wogen ihre feinen Seelen zu einem dichten Gewebe und waren beiderseitig die einzigen Vertrauenspersonen in ihrem jeweils tragischen Alltag. Sie waren sich gegenseitig Spiegel und Antlitz, Weg und Wegweiser, Quelle und Meer, Schüler und Lehrer. Sie liebten voneinander zu lernen, und lernten einander zu lieben. Einige Wochen nach ihrem ersten Treffen bestiegen sie bei einer von vielen gemeinsamen Nachtwanderungen den Aussichtsturm in der Stadtmauer hinter der Kirche. Der Zauber, der in der sternenklaren Nacht dort oben herrschte, vernebelte ihren Verstand in einer so schauderhaft-schönen Weise, dass sie beschlossen sich jede Nacht dort einzufinden. Und seit diesem besagten Abend trafen sie sich immer wieder, Nacht für Nacht, auf dem Turm, um ihre gegenseitige Schüchternheit zu genießen und ihren kindlichen Geist auf ewig im Kosmos zu konservieren. Einesnachts hatte Marie ein Liederbuch mitgebracht und deutete Thomas an, ihr daraus in der stillen Dunkelheit etwas vorzusingen. Vorerst war er davon nicht begeistert, doch als er begriff, dass sie ja nicht singen konnte, war der Wunsch nicht mehr abzuschlagen. Zaghaft leise begann er anfangs ihr die einfachsten Stücke vorzunuscheln, doch schnell hatte er Gefallen daran gefunden, vor allem als er gesehen hatte, wie sehr er ihr damit eine Freude bereiten konnte. Also wurde er immer selbstbewusster und entwickelte mit der Zeit eine kindliche Gesangstimme, die mutig und überzeugt klang und deren geheimnisvoll gehauchten Melodien dem Zuhörer eine Ahnung von den phantastischen Gedanken gaben, die sich dabei in Thomas’ Kopf abspielten.

Dicht aneinandergeschmiegt saßen sie oben im Turm, von unzähligen Sternen beobachtet, doch unerreichbar für ein Menschenauge. Sie in seinem rechten Arm, ihr Kopf auf seiner rechten Schulter, das Buch zwischen ihnen in seiner linken Hand, ihre sehnsüchtigen Blicke auf seinen Lippen, große Worte, getragen von den verheißungsvollen Melodien in den Ohren der beiden, so praktizierten sie ihr nächtliches Ritual und fanden nun endlich, nach fünfzehn Stunden des täglichen Hetzens, Versteckens und Gehorchens, den wohlverdienten Seelenfrieden, der ihnen die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zuflüsterte. Als das Lied zu Ende war, verharrten beide kurz im Stillschweigen um sich des Geschehenen bewusst zu werden und es für immer in den Tiefen ihrer Herzen zu verinnerlichen. Dann ergriff Marie das Buch, blätterte behände einige Seiten weiter, gab Thomas das Buch zurück, deutete auf das Lied, das als nächstes kommen sollte, und schon kurz darauf sank ihr Kopf wieder auf seine Schulter und ihre Gedanken gerieten erneut auf Irrwege, trieben auf seinen Worten davon, ließen herrliche Leere in ihrem Kopf zurück, bis sie nicht einmal mehr wusste wo sie war oder wer sie ist. Solange Thomas’ reine Stimme die Luft auf dem kleinen Turm erfüllte, entglitt ihr das Bewusstsein und ließ in ihrem Unterbewusstsein ein warmes, sanftes Gefühl des Nachhausekommens zurück, wie es nur in schönen Träumen entstehen kann. Niemals erfuhr sie jedoch von dieser Wonne, weil sie jedes Mal, wenn das Lied endete und ihr Bewusstsein zurückkam, nur noch ein kurzes, wohliges Abflauen dieses glühenden Empfindens vernahm; als würde sie zur letzten Note einer himmlischen Klaviersonate aufwachen, so konnte sie auch hier die Befriedigung des Verpassten nur noch erahnen. 
Und so setzten die beiden die Nacht fort. Thomas sang ein Lied nach dem anderen, in den Pausen zwischen zwei Liedern schwelgten sie in Stillschweigen jeder seinen eigenen Hirngespinsten nach, gedachten ihrer desolaten Vergangenheit und bauten auf ihre goldene, gemeinsame Zukunft. Diese kontemplativen Zwischenpausen dauerten so lange, bis Marie den Zauber brach und nach dem Buch griff um das nächste Lied auszusuchen. Gewöhnlich wiederholte sich dieser Kreislauf vier bis fünf Mal, doch weil Thomas heute zu spät gewesen war, brach sie das Vorsingen schon nach dem dritten Lied ab, legte das Buch weg und schmiegte sich noch inniger an ihn. Ihm kam das sehr gelegen, denn dies war sein liebster Teil ihrer Treffen. Er verhielt sich eigentlich schon immer mehr passiv und ließ seine Freundin dirigieren. Sie suchte die Lieder aus, sie bestimmte wann sie begannen und wann sie endeten, sie gab die Dauer der Pausen und die Dauer des Kuschelns vor. Zu jedem Zeitpunkt hatte sie die Fäden in der Hand, doch das war ihm so gerade recht. Er fühlte sich stets unsicher und verstand hier zum ersten Mal, dass die Frauen in der Reife immer etwas voraus sind. Marie schien immer zu wissen, wann der richtige Zeitpunkt für welches Lied gekommen war, und wann es Zeit wurde, die Lieder wieder beiseite zu legen. Dann konnte sie geschickt in die Phase der innigen Zweisamkeit übergehen, in der er sich so wohl fühlte, und wenn der Augenblick gekommen schien, in dem der Reiz des Ineinanderversinkens abzuflauen drohte, löste sie gekonnt ihre Arme, entzog sich seinen Händen und stand auf um in die Ferne zu schweifen. Oft dachte Thomas, dass er auch wüsste, wann man vom einen zum anderen übergehen müsse und wann der richtige Zeitpunkt für die nächste Handlung da sei, doch besaß er zu wenig Überzeugung, um von sich aus zur Tat zu schreiten. Die Bestimmtheit ihrer Entscheidungen schüchterte ihn ein und hatte zur Folge, dass er sich einfach führen ließ, was allerdings, wie gesagt, nicht das geringste Problem für ihn darstellte. Er genoss es jede Nacht auf’s neue, sich ihren Entscheidungen hinzugeben.
Doch das war nicht die einzige Eigenschaft, in der Marie ihm voraus war. Er hatte über die Monate hinweg noch einen Vorzug ihrerseits bemerkt, den er jedoch nicht benennen konnte. Es war etwas geheimes und übersinnliches das er in ihrem Blick entdecken konnte, wenn er sie beobachtete, während sie in seinem Schoß lag und nach den Sternen eiferte. Es war so ähnlich wie ein Grinsen, das jedoch nur von den Augen ausging, wobei der restliche Teil des Gesichtes starr und ausdruckslos blieb. Dabei lag ein grauer Schatten um ihre Augen und ihre Iris schillerte durch das Mondlicht hellgrün. Marie erweckte dabei stets den Eindruck, als sähe sie da oben Dinge, die nur für sie bestimmt waren und die von niemand anderem erhascht werden konnten. Thomas suchte dann immer verzweifelt den Himmel ab, doch außer des natürlichen, allmächtigen Glitzerns des Firmaments und außer dem beständigen kühlen Schein des Mondes, war dort oben nichts außergewöhnliches für ihn zu finden, dass ihren Gesichtsausdruck hätte auslösen können. Dann wandte er sich ihr wieder zu, in der Hoffnung sich in ihren Augen getäuscht zu haben, doch der mysteriöse Blick war stets noch da. Was war es doch für ein Jammer, dass sie ihm nichts von dem, was sie gerade dort oben sah, erzählen konnte! Dieser Blick war das ewige Geheimnis, das sich zwischen den beiden verbarg, das hinter Maries Augen vergraben lag, in ihrem stummen, mannigfaltigen Geist. 
Dicht ineinandergeschlungen kauerten die beiden im Turm, Marie starrte mit ihrem ausdruckslosen Grinsen in die Unendlichkeit und Thomas ließ seinen Gedanken in den Sternen ebenfalls freien Lauf, immer noch in der Hoffnung, etwas transzendentes zu erfahren. Dies ging eine ganze Weile so weiter. Schweigsam genossen sie den Moment und zwischen ihnen kommunizierten nur die Körperdüfte miteinander. Doch nachdem einiges an Zeit verstrichen war und der Mond schon fast über die halbe Stadt gewandert war, wurde Thomas auf Grund seines erfolglosen Suchens trübselig und konzentrierte sich auf das Hier und Jetzt. Dabei stiegen in ihm schon die ersten Gedanken an den morgigen Tag empor, die seinen Gemütszustand noch mehr erschwerten, deshalb beschloss er Marie in seine aktuellen Gedanken einzuweihen, damit wenigstens sie wusste, was in ihm vorging, wenn sie schon ihre Erlebnisse nicht mit ihm teilen konnte. Ihre Apathie störte ihn dabei nicht im geringsten, er redete einfach drauf los, denn er wusste, dass sie ihm zuhören würde.
"Weißt du, ich frage mich gerade, ob zwei Kinder von unserem Menschenschlag in diesem Leben jemals glücklich werden können. Was meinst du?" Ihre Augen blinzelten, ihr Körper vollzog ein paar unbestimmte Bewegungen und nach kurzer Orientierungslosigkeit wandte sie sich ihm zu und blickte ihm tief in die Augen. Dann zeigte sie ein gutmütiges Lächeln und zuckte leicht mit den Schultern, worauf sie ihre Hand zu seinem Gesicht gleiten ließ und ihm zart über seinen linken Backen streichelte. Daraufhin wanderten ihre Augen wieder zurück in den weiten Himmel, doch Thomas hatte sie vollkommen verstanden. Sie wollte ihm sagen, dass er wohl recht hatte, doch sich keine Sorgen zu machen brauchte, weil sie sich ja beide füreinander hatten und somit alles durchstehen konnten. Damit hatte sie recht, dachte er und fuhr fort, wobei er bemerkte, dass ihre Augen jetzt den Sternenhimmel nur noch beobachteten, ihn aber nicht mehr durchdrangen, was bedeutet, dass sie jetzt ganz seinen Erzählungen zugeneigt war.
"Mh, du hast Recht. Wie soll man denn diese ganzen Mensch verstehen, die dort hinter ihren Fenstern tief schlafen und das beste verpassen? Meinst du die haben jemals schon den Sternenhimmel gesehen wie er hier gerade über uns hängt?" Sie schüttelte entschieden den Kopf. "Das werde ich nie begreifen. Alle verschlafen sie die unbezahlbaren Stunden der Nacht und verdienen sich dann tagsüber ihr Geld um damit die Probleme zu bewältigen, die ihnen das Tageslicht bereitet. Mir kommt es oft so vor, als ob mein Vater nur arbeiten geht um am Ende ein Alibi für sein vermurkstes Leben zu haben." Marie wandte sich vom Himmel ab und gab sich nun komplett Thomas hin. Sie setzte sich halb liegend zwischen seine Beine, krümmte sich zusammen und legte ihren Kopf auf seine Brust. Dann schloss sie die Augen und als sie wieder komplett ruhig wurde, fuhr Thomas fort. "Alle Erwachsenen jammern immer nur über die Bürden des Lebens, doch halsen sie sich doch die alle selbst auf! Eines sag ich dir: Wir beide, wir werden nie so werden. Wird werden nie etwas arbeiten müssen, denn wir haben den Sinn für die schöne Seite des Lebens. Tagsüber werden wir schlafen und wenn wir wach werden wird es schon dunkel sein und wir können gemeinsam die Nacht durchstreifen. Und das gute ist, dass man nachts sowieso kein Geld braucht, weil es erstens nichts zu kaufen gibt und zweitens die Nacht an sich alle unsere Bedürfnisse stillt. Ich sag dir, das ist der Weg zu unserem Glück und so werden wir das schaffen. Überleg doch mal, wenn wir dann noch..." Und so spann Thomas seine großen Zukunftspläne in die Nacht hinein. Jetzt war er, ohne, dass er es bemerkte, in die träumerische Phase gelockt worden. Jetzt war er an der Reihe seinen Phantasien hinterherzujagen und Marie damit zu begeistern.
Sie lag immer noch auf seiner Brust, vergnügte sich an seinen Erzählungen und genoss den Moment. Seine kindliche Naivität fand sie beeindruckend und beneidenswert. Sie spürte, dass sie schon zu viel Verstand besaß um sich in seinen surrealen Luftschlössern verlieren zu können, doch freute sie sich für ihn und vergnügte sich an seinem Leichtglauben. Ihr Kopf wog dabei langsam mit Thomas' Atemzügen auf und ab und auf ihrem rechten Ohr konnte sie sein Herzklopfen hören. Allmählich wurden die beiden eins, verschmalzen körperlich sowie geistig miteinander und atmeten junge Liebe. 
Doch schließlich kam auch wieder der Moment, an dem Marie die Ernüchterung überkam und an dem sie spürte, dass für diese Nacht der Zeitpunkt gekommen war, an dem sie sich beide wieder für einige schwere und helle Stunde trennen werden müssen. Vorsichtig regte sie sich, hob ihren Kopf von seiner Brust und entzog sich seinen dünnen Armen. Dann, als sie sich aus seinen engsten Fängen gelöst hatte, wurden ihre Bewegungen rascher. Kurz und schmerzlos kroch sie aus seinem Schoß, erhob sich und lief hinüber zur Brüstung auf der anderen Seite des Turmes. Dort stütze sie sich mit beiden Armen auf die kalte Mauer und blickte über die schlafende Stadt. Thomas saß währenddessen noch wie in Trance auf der anderen Seite, richtete sich zaghaft auf und beobachtete dabei Marie, wie sie sich dort drüben wie ein Engel im Nachthimmel absetzte. Ihr Rock und Haar wehten im zarten Wind, der Mond ließ ihre Konturen im kalten Licht leuchten und die Sterne führten im Hintergrund ihr funkelndes Schauspiel auf. Ihr rechter Fuß spielte wieder verträumt im staubigen Boden und obwohl Marie ihm den Rücken zugewandt hatte, konnte sich Thomas genau ihr frohes Gesicht mit den strahlenden Augen vorstellen, dass sie in diesem Moment aufgesetzt hatte. Während er seine geheimnisvolle Freundin so musterte, wandte sie plötzlich ihren Kopf um und sah ihn kurz mit verheißungsvollem Blick über die Schulter an. Dies geschah so schnell, dass er sich kurz darauf schon fragte ob er sich nicht getäuscht hatte, doch war durch ihren Blick in ihm das Verlangen, in ihrer Nähe zu sein, sofort erneut entfacht, weshalb er flink aufsprang und sich neben ihr an die Brüstung stellte, ihre Hand wieder ergriff und seine Schläfe an ihre schmiegte. Marie zog ihn noch fester an sich heran und so standen die beiden wieder vereint da, schweiften in die Ferne und schwiegen im melancholischen Bewusstsein, dass diese unbeschwerte Zeit des rücksichtslosen Liebens in naher Zukunft, wie alles im Leben, vom Sand der Zeit bedeckt werden würde und nichts, als eine schöne, versteinerte Erinnerung übrig bleiben wird. Unter ihnen lagen die müden Häuser, aus den Straßen atmete die Stadt grauen Nebel aus und die Bäume wogen sanft im warmen Wind. Wie aus weiter Ferne, doch klar vernehmbar, verkündete der hohe Klang einer Kapellenglocke irgendeine Uhrzeit, doch die war jetzt egal. In Zeiten frischer Jugendliebe verlieren profane Dinge wie die Uhrzeit ihre Bedeutung. Für die beiden war das Läuten lediglich eine passende Untermalung zu dem Schaubild, das sich ihnen bot. Unten, vor der Stadtmauer, floss der Bach unbekümmert weiter nach Westen, als wäre auch er auf der Flucht vor dem Sonnenaufgang. Thomas beobachtete das Wasser einige Zeit lang und irgendwann fragte er Marie: "Findest du nicht auch, dass das fließende Wasser da unten den Eindruck macht, als würde das Mondlicht synchron zum Plätschern darauf herumtänzeln?" Ein herzhaftes Schmunzeln glitt ihr über das Gesicht, woraufhin sie ihren innigen Griff löste und sich Thomas zuwandte. Erwartungsvoll schaute er ihr in die Augen und sie erwiderte seinen Blick mit süßem Grinsen. Dann ergriff sie mit beiden Händen seinen Kopf, sah ihm tief in die Augen und nickte als Antwort auf seine Frage, die in ihr wieder die herrliche Freude über seine kindliche Wahrnehmung hervorgerufen hatte. Schließlich zog sie sein Gesicht zu sich heran und küsste ihn einfühlsam auf den Mund. Thomas wusste nicht wie ihm geschah, denn es war sein erster Kuss mit ihr. Ein seltsames, unbekanntes Gefühl überkam ihn, doch ehe er es genießen konnte wich Marie schon zurück und mit ihr auch dieses Gefühl. Daraufhin beobachtete sie gespannt seine Reaktion. Verlegen richtete er seine Augen wieder ihren zu, sah sie etwas fragend an und begann zu schmunzeln. Dann ergriff er ein weiteres mal ihre Hände und so standen sie vis-a-vis in vollkommener Zufriedenheit im aufziehenden Nebel. Er hatte nicht die leiseste Ahnung was er in diesem Moment sagen sollte. Damit hatte er noch keine Erfahrung und war außerdem überhaupt nicht darauf vorbeireitet gewesen. Verzweifelt haschte er nach passenden Worten, doch kam schnell zu dem Schluss, dass die Weisheit des Schweigens jetzt am meisten angebracht sein würde. Also gab er sich einfach diesem Augenblick hin und versuchte, möglichst viel ihrer momentanen Schönheit und Zuneigung für immer zu verinnerlichen. Dabei bemerkte er allmählich, dass dieses Gefühl, das er vorhin während dem Kuss empfunden hatte, erneut in ihm aufstieg und konnte am Funkeln in Maries Augen erkennen, dass ihr es genauso erging. Zufrieden und losgelöst von allem Weltlichen streifte die beiden eine leise Ahnung von etwas knisterndem und unbekanntem und versetzte ihre zerbrechlichen Gemüter in ein zittriges Wogen. Es war eine leise Melodie, die die Sinne umspielte und die Hoffnung auf eine goldene Zukunft entzündete; ein vorsichtiges, doch vertrauensvolles Flüstern aus unbekannten Schattenwelten, das Mut machte neue Galaxien zu betreten, doch gleichzeitig auch Ängstlichkeit vor dem Neuen hervorrief. Sie beide glaubten etwas zu spüren, doch fühlten gleichzeitig nichts darüber zu wissen.

Schließlich war es wieder Marie, die diese Situation auflöste. Sie ging auf Thomas zu, umarmte ihn kräftig und als sie ihn wieder los ließ, wandte sie sich ab und lief zur Treppe ohne ihn eines Blickes zu würdigen, wobei sie ihn jedoch, an einer Hand haltend, im Schlepptau hinter sich dabei hatte. Auch die nächtliche Aussicht, die zwar mittlerweile nahezu komplett vom Nebel verschluckt war, aber deswegen nicht an reizvollem Glanz verloren hatte, ließ sie unbeachtet hinter sich und ging eilig die Treppen hinab, während Thomas versuchte hinter ihr Schritt halten zu können. Als sie unten ankamen blieb sie abrupt stehen und wandte sich ihm ein letztes mal zu. Hier unten wurde beiden klar, dass sich nun für diese Nacht endgültig ihre Wegen trennen werden, denn Marie ging immer in die genau entgegengesetzte Richtung heim, wobei Thomas nie erfahren hatte, wo sie wirklich wohnte. Ein letztes mal tauschten sie innige Blicke aus, die jetzt schon erwartungsvoll die nächste Nacht und das nächste Treffen ersehnten. Dann erhob Marie ihre rechte Hand, küsste die Innenseite ihres Zeigefingers und drückte sie anschließend auf seine Lippen. Als sie die Hand wieder zurücknahm griff Thomas instinktiv nach ihr, zog sie verzweifelt auf sich zu, doch löste sich Marie aus seinem Griff, streichelte ihm dafür tröstend über den Oberarm, schenkte ihm ein letztes Lächeln und drehte sich schließlich um und lief davon.
Im gedämpften Licht der Straßenlaterne blieb Thomas zurück und sah ihr nach, wie sie schnellen Schrittes zusehends vom Nebel verschluckt wurde. Nach wenigen Augenblicken war sie komplett verschwunden und er blieb alleine mit seinen Gedanken im hell leuchtenden Dunst unter der Laterne zurück. Langsam begriff er die Ereignisse der letzten Stunden und realisierte den Schritt, den sie beide heute Nacht gemacht hatten. Seit dieser Nacht würden sie nicht länger zwei leidenschaftliche Freunde sein, sondern zwei Verliebte, die zusammen auf der Flucht vor der Zeit, dem Licht und eigentlich allem irdischen Leben waren. Doch schon in diesem Moment wusste er, dass sie es schaffen werden und dass ihnen eine goldene Zukunft bevorsteht. Daraufhin drehte auch er sich um und ging los ins Nichts, wo irgendwo sein so genanntes Zuhause war. 

Der Heimweg kam ihm wie Schlafwandeln vor. Die unzähligen neuen Gefühle, die sich in ihm regten, verwirrten seine Wahrnehmung und der Nebel ließ die gesamte Umgebung verschwimmen, sodass er sich wie in einem phantastischem Traum vorkam. Dabei ging er nicht bewusst einen Weg heim, sondern ließ sich einfach vom Mond führen, denn seine Gedanken waren weit entfernt mit anderen Dingen beschäftigt. Sie schwebten zwischen Himmel und Erde im Zwielicht des jungen Lebens und entwarfen Bilder, die auf keine Kinoleinwand projiziert werden könnten und in keinen erwachsenen Verstand passen würden; sie waren gefangen in der Unendlichkeit, als Geiseln der Freiheit und komponierten Melodien, die von keinem Orchester wiedergegeben und von keinem Ohr erfasst werden könnten; sie zeigten der Phantasie die nicht vorhandenen Grenzen auf und ließen Dinge geschehen, die kein Prediger in Worte und kein Autor in Schrift fassen könnte. Thomas' Gedanken waren zügellos beflügelt und trieben einem unbekanntem Ziel entgegen, von dem selbst er nicht erahnen konnte was es sein wird, was es zu bedeuteten haben wird und wie es aussehen wird. Das Einzige, das für ihn fest stand, war der Ort, an dem sein mystisches Ziel zu finden sein wird: Im Schatten der Nacht.