Dienstag, 10. Juni 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 2/4

Die feinen Nebelschwaden waren mittlerweile komplett der mächtigen Sonne gewichen, taufeuchte Tulpen öffneten auf den Fensterbrettern ihre Kelche und Schwalben flogen tief und mit munterem Gesang durch die erwachten Straßen der Stadt. Die Luft war noch so rein und frisch, wie sie nur nach einer vernebelten Nacht sein kann, bis die Häuser, Menschen und Maschinen wieder in Schwung kommen und den Dunst ihrer ehrlichen Arbeit ausstoßen. Erste, kleine Cafés öffneten ihre Pforten, Frühstücksduft lag in den Gassen der Altstadt und Paare mittleren Alters flanierten zufrieden umher, um ihren freien Tag gebührend zu beginnen. Der Morgen hatte seine Hülle abgeworfen und zeigte seine Konturen in den sattesten Farben und schärfsten Kontrasten. Auch Peter hatte die intensivste Phase seines Rausches hinter sich gebracht, den Schleier seiner Wahrnehmung größtenteils abgelegt und sich nach seiner Verirrung ins Neubaugebiet wieder stadteinwärts begeben. Seine Umwelt konnte er wieder klar erkennen, doch wurde sie von den Sinnen vorsichtig gedämpft, um das verletzliche Gemüt des ausnüchternden Trinkers nicht zu verstimmen. Fasziniert vom bodenständigen Tagesverlauf seiner Mitbürger und von der zwanglosen Freude, die er in ihren Gesichtern fand, schlenderte er umher und versuchte zaghaft das Geheimnis hinter ihrer nüchternen Fröhlichkeit zu entdecken. Das Abflachen des Rausches konnte er nicht spüren, und so sank er ganz langsam und sanft zurück in das Reich der Denkenden. Parallel dazu erwuchs in ihm die gewohnte Melancholie und die alte Verachtung gegenüber den Mitmenschen, die ebenso unschuldig waren wie er, doch trotzdem zufriedener sein konnten als er. Der gewohnte Groll überkam ihn und mit ihm der bekannte Begleiter, sein bester Freund und schlimmster Feind, der Durst. Gemischt mit der aufkommenden Müdigkeit braute sich in ihm ein übelartiger Gefühlscocktail zusammen, der durch die Wechselwirkung der locker-entspannten Stimmung der morgendlichen Straßen noch verstärkt wurde. Mit der Nervosität eines Flüchtenden und der Zielstrebigkeit eines Suchenden beschleunigte er seine Schritte, die Absicht im Hinterkopf, auf dem schnellsten Wege eine angemessene Örtlichkeit zu finden, in der man sich möglichst unbeobachtet in Alkohol ertränken konnte, bevor es das Selbstmitleid schaffte. Hastig, von aufkommender Verzweiflung ergriffen, lief er umher, hielt sein Gesicht dem Boden zugewandt und sah nur ab und an kurz nach oben um einen möglichen Zufluchtsort vor seiner misslichen Lage zu erhaschen. Doch sämtliche Kneipen, die er noch von früher aus der Innenstadt im Hinterkopf hatte, waren entweder verschwunden, geschlossen oder durch andere unnütze Geschäfte ersetzt worden. Die Unruhe in ihm begann zu kochen, zu jucken und machte ihn zum gefährlichen, wandelnden Pulverfass, das so leicht die Beherrschung verliert und zu Exaltationen neigt. Sein Gang wurde stets schneller, doch gleichzeitig auch unbestimmter, sein Blick wurde verbitterter und frequentierte immer eifriger, doch unachtsamer seine Umgebung, aber nirgends war ein angemessener Hafen zu finden, der Schutz vor der rauen See in seinem Kopf bieten konnte. In all der Rage und Verzweiflung fuhr plötzlich ein Fahrradfahrer an ihm vorüber, streifte ihn um ein Haar am Ärmel und klingelte ärgerlich, worauf Peter fürchterlich zusammenschrak, einen Satz zur Seite machte und gegen ein Werbeschild stieß. Dieses fiel zu Boden, lärmte blechern und bescherte ihm dadurch die schaulustigen Blicke einiger Umstehenden. Als das Scheppern verklungen war sah er sich verstohlen um. Er konnte keinen seiner Beobachter erkennen, doch in ihren Gesichtsausdrücken konnte er definitiv sehen, dass sie ihn, sein Schicksal und seinen Ruf kannten. Manche verdrehten die Augen, andere tuschelten hinter vorgehaltener Hand und wieder andere warfen sich wissende Blicke zu, doch schließlich wanden sich alle nach einigen Sekunden wieder ab und überließen ihn seinen Problemen. Schuldbewusst hob er das Schild auf, platzierte es dort, wo es gestanden haben musste und musterte dabei die Aufschrift, die in eleganten, schwungvollen Buchstaben mit Kreide darauf geschrieben war.
"Heute internationales Frühstück bis 11:00 Uhr" Internationales Frühstück? Vielleicht herrscht dort das richtige Ambiente für mein aufgewühltes Gemüt. Vielleicht ist das der richtige Ort, um mich unbemerkt an die Bar zurückzuziehen und einfach einer unter vielen sein zu können. So dachte er und besah dabei das Haus, vor dem er gelandet war. Es war ein altes, schiefes Gebäude mit rotem Fachwerk, das liebevoll in Stand gehalten wurde und jovial einladend wirkte. Man sah dem Zustand der Fassade, der Dekoration der Fenster und dem Charakter des Gesamtbildes an, dass hier eine liebenswerte, alte Dame die Fäden in der Hand hielt. Die Fenstersimse waren mit dicht bewachsenen Blumentöpfen bestellt, hinter den Scheiben konnte man zierlichen Holzschmuck entdecken und im beidseitig sandsteinbemauerten Gang, der hinter das Haus und zum Eingang führte, kletterten Efeuranken verträumt nach oben, dem Licht entgegen. Drinnen, in der Stube sah er zwar schon einige Tische, die mit zufriedenen, ebenfalls älteren Paaren besetzt waren, doch schienen diese zu sehr mit sich selbst und ihrem spätsommerlichen Glück beschäftigt, als dass sie sich mit seiner kläglichen Person abgeben hätten können. Allgemein erweckte dieser Ort den Anschein, jeden Besucher gerne aufzunehmen und ihm seine Bedürfnisse bedingungslos zu stillen. Peter war überzeugt, hier den nötigen Seelenfrieden für die nächste Stunde finden zu können, also schlurfte er den kühlen, schummrigen Sandsteingang nach hinten und betrat die Kneipe. Er stieg einige Stufen hinunter in den Gastraum, der auf halber Höhe der Straße lag. Schwerer, süßer Blütenduft lag im Inneren des Hauses. Das Tageslicht schaffte es nur gedämpft durch die alten Scheiben und wurde im Gastraum zu einem einzigen, schummrigen Gebilde. Die Luft war träge, staubgeschwängert und es schien, als würden die Sonnenstrahlen in dieser zähen Masse versinken, allmählich aushärten und schließlich mit der Zeit verschmelzen. Die Wände waren mit alten, knarzenden Eckbänken aus dunklem Holz gesäumt, Vorhänge, Tischdecken und Servietten waren in rot-karierten Karos gehalten und die Deckenlampen sowie die Arabesken auf den seitlichen Lehnen der alten Bänken schimmerten in altem Messing. In der Mitte des Raumes stand ein langer, reichlich bedeckter Tisch, an dem sich die Gäste erlabten. Leichte Klaviermusik flüsterte durch die dicke Luft, an die sich später zwar keiner der Besucher mehr erinnern werden würde, die jedoch ihnen den Aufenthalt in dieser Kneipe im Unterbewusstsein versüßte und ihre Sinne anregend umspielte. Dieses Haus war ein pittoreskes Stückchen Erde, an dem sich Peter wohl fühlte, und dessen Stimmung ihm Wohlbehagen und Vertrautheit suggerierte. Hoffnungsvoll begab er sich an den Tresen, ließ sich erschlafft auf einen Hocker sinken und studierte sogleich die Karte. Das vergnügte, ungezwungenen Treiben der anderen Gäste, die trotz seiner Anwesenheit nicht in Ekel und Abscheu verfielen, munterte ihn dabei noch weiter auf, und so wartete er guter Dinge auf die Bedienung. Diese kam bald, erfüllte mit ihrem ergrauten Haar, ihrem herzlichen Blick und ihrer freundlichen Art Peters Erwartungen, nahm höflich die Bestellung auf und brachte ihm nach wenigen Minuten seinen Irish Coffee, den er dankend entgegen nahm und dabei noch etwas anmerkte: "Dankeschön, gnädige Frau...ja, schreiben sie es auf, dankesehr. Jetzt fehlt nur noch mein Rum." Höflich lächelte sie ihn an und antwortete ihm: "Oh..nein, nein. Sie verstehen falsch! Der Rum ist in ihrem Kaffee, sie haben einen Irish Coffee bestellt." - "Ja natürlich, gnädige Frau. Aber ich glaube, sie verstehen falsch. Ich möchte zusätzlich zum Irish Coffee noch einen Rum...pur." Da huschte ein Schatten über ihre Miene, der aus dem natürlichen Lächeln ein gezwungenes machte und ihre Stimme bekam einen misstrauischen Unterton. "Ah, verstehe Monsieur. Ich dachte, sie wollten vielleicht vorerst etwas Essen zu sich nehmen. Aber sie sollen ihren Rum bekommen. Einen Moment, bitte!" - "Sehr gut, Dankeschön!" rief Peter ihr hinterher und freute sich währenddessen noch mehr, dass er tatsächlich in dieser friedlichen Gesellschaft Gast sein durfte und auch seine anormalen Eigenheiten, wie Sonntagmorgens um halbzehn puren Rum zu trinken, akzeptiert wurden. Selbstzufrieden nippte er am seinem Kaffee und spürte sofort die erquickende Wirkung des Koffeins und die Befriedigung durch den Alkohol. Während er noch einige weitere Schlücke nahm, stellte ihm die Barfrau kommentarlos den Rum auf den Tresen und schenkte ihm ein weiteres, affektiertes Lächeln, bei dem Peter den erzwungenen Charakter aufgrund seiner euphorischen Begeisterung gar nicht wahrnahm. Den Schnaps trank er unverzüglich aus, und die heimatliche Wärme, die sich daraufhin in ihm ausbreitete, löste in seinem Kopf das Verlangen nach mehr aus, worauf er der Dame sofort hinterher rief um zwei weitere Rum zu bestellen. Diese würdigte ihn mit einem kurzen Blick, zog ihre Augenbrauen hoch, wischte dabei ihre nassen Hände an der Schürze ab und wandte sich mit einer erwachenden, bösen Vorahnung ab, um seine Bestellung auszuführen. Als sie diese beiden Rums brachte war ihr Blick wie versteinert. Peters fröhliche Art würdigte sie lediglich mit einem kurzen, verzerrtem Grinsen und wandte sich postwendend wieder ab um nicht in ein Gespräch verwickelt zu werden. Das Etablissement, in dem er sich hier niedergelassen hatte, war für Kaliber seines Menschenschlages nicht ausgelegt. Dieser Ort war ein Tempel für sehnsüchtige Schwelger und für gestrandete Weltumsegler, die hier ihren persönlichen Herbst zubringen wollten, um der Vergangenheit zu gedenken und die Zukunft zu verehren. Jedoch war dies kein Ort für unruhige, explosive Gemüter wie Peter eines war, was die Besitzerin spätestens jetzt zu erahnen begann. Doch Peter, immer noch zu euphorisch um zu begreifen, übersah ihren Stimmungswechsel und widmete sich seinen beiden Kurzen. Dabei drehte er sich auf seinem Barhocker und ließ seine Augen durch den Raum schweifen um das zwanglose Geschehen zu bewundern. Alle Leute hier waren lustig, an jedem Tisch gab es, unabhängig voneinander, Anlass zum Lachen; wo er auch hinsah, fand er ausschließlich ehrliche, aufrichtige Freude, wie sie nur in solchen anonymen Hinterhofkneipen, abseits vom ernsten Pflichtbewusstsein der Straßen, aufknospen kann. Mit verstreichender Zeit fühlte er sich dieser Gemeinschaft mehr und mehr zugehörig. Er sah sich als einen Teil dieser privilegierten Runde und gab sich der bacchantischen Stimmung bedingungslos hin. So gingen seine beiden hochprozentigen Begleiter schnell dahin, worauf er beschloss eine neue Runde zu bestellen, denn der Tag war schließlich noch jung. Doch vorerst musste er seinen menschlichen Pflichten nachgehen und erhob sich um auf die Toilette zu gehen. Dabei bemerkte er die wiederkehrende Wirkung des Alkohols, woran er sich erfreute und glückerfüllt zum stillen Örtchen schwankte. Die bösen Geister durchschwebten wieder seine Seele und das war gut so. Belustigt kehrte er zurück, lief auf dem Weg zu seinem Sitzplatz an der Dame des Hauses vorbei und bestellte im Vorübergehen eine weitere Runde, wobei er ihr freundschaftlich auf die Schulter fasste. Dabei fuhr sie erschrocken umher, quittierte seine Heiterkeit mit ekelerregtem Blick und ließ ihn antwortlos stehen. Dieses Verhalten kam Peter etwas seltsam vor, doch entschuldigte er es für sich selbst mit ihrem permanenten Arbeitsstress. So kehrte er auf seinen bestimmten Platz unter den ehrenvollen Leuten zurück und wartete friedvoll auf das Wiederkehren der Bedienung. Jetzt war er wieder im schwelgerischen Modus der Halbtrunkenheit. Zufrieden blickte er umher, sah die besonderen, erhabenen Leute, die zwischenmenschlichen Liebkosungen, das alte, erfahrene Interieur und die zwanglose Gelassenheit. Doch den Punkt, an dem er den Stellenwert dieser Geschehnisse noch einordnen konnte, hatte er längst wieder über schritten. Er nahm sie wahr, erfreute sich an ihnen, doch war es eine oberflächliche, stumpfsinnige Freude und keine, die von Dauer war und die für spätere Erzählungen dienen konnte. Die Erlebnisse drangen in seine Wahrnehmung ein, jedoch nicht in sein Gedächtnis, das schon wieder auf den weiten Meeren der Trinkerei entschwunden war. Doch zumindest konnte er im Hier und Jetzt am Geschehen teilnehmen, die Gefühle mit den Anwesenden teilen und jede Geste, jede Handlung, jedes Glück sehen, und alles was er sah war vollkommen rein und aufrichtig. Verträumt starrte er auf einen unbestimmten Ort im Raum und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Diese verloren sich in Glückseligkeit, spannen ein wohliges Kokon um sein armes Gedächtnis, das in den letzten Jahren so sehr leiden musste und bescherten ihm einige schöne Minuten. All diese Menschen leben so unbekümmert, haben so viele Gründe zur Heiterkeit, dass sie gar nicht realisieren, wie die Uhr sich dreht und der Tag vergeht. Die Zeit plätschert an diesem Ort so unbefangen dahin, als würde sie unendlich sein, so dachte er. Unendlich...das war für ihn immer ein Wort von großer Bedeutung, etwas Unergründliches, Mystisches gewesen, doch hier, an diesem Ort verloren Worte wie diese das bedeutungsvolle Gewicht, das ihn einst sehr vorsichtig mit solchen Begriffen werden ließ. Unendlichkeit...Freiheit...Zukunft... was bedeuteten diese Dinge hier schon, fragte Peter sich. An diesem Fleckchen Erde war alles gut so, wie es war; keiner musste sich um irgendetwas sorgen und jeder war willkommen. Wieso konnte das nicht überall so sein? Was war an den Mitmenschen hier so besonders, das die anderen nicht hatten? In dem Moment hörte er zweimal, kurz aufeinader folgend, das Klopfen der beiden Schnapsgläser auf der Bar, wodurch seine Aufmerksamkeit sofort zurück im wahren Geschehen war und er sich der bedienenden Frau zuwandte. Sie stütze sich mit beiden Händen auf ihre Theke, beugte sich auffordernd nach vorne und deutete auf seine Rechnung, die sie neben den Gläsern auf das feuchte Holz gelegt hatte. "Also mein Freund, tut mir Leid, aber danach ist für dich heute Schluss hier. Bezahle deine Schulden und dann muss ich dich bitten zu gehen!" Perplex starrte Peter ihr in die Augen und verstand die Welt nicht mehr. Gerade hatte er sich noch dieses Momentes erfreut und den vollkommenen Frieden, der hier herrschte, wie Balsam auf sich wirken lassen, und nun wurde er aufgefordert zu gehen, obwohl er sich nichts zu Schulden kommen lassen hatte. "Wie bitte? Verstehe ich Sie jetzt richtig?" Da sah sie ihn dezidiert an und entgegnete: "Oh ja, das tun Sie! Hören Sie, wir sind hier eine kleines Restaurant in dem man gut essen und sich ruhig unterhalten können soll. Und keinesfalls sind wir eine Anlaufstelle für alleinstehende Vagabunden, die früh um zehn Uhr ihre Midlifecrisis in karibischen Rum ertränken wollen. Deshalb muss ich sie nun ein letztes mal bitten zu bezahlen und anschließend durch diese Tür zu gehen!" Diese heftigen Worte waren zu viel für Peters reizbaren Charakter. Er war hier reingekommen, hatte friedlich das ein oder andere Getränk bestellt, war auf keine Weise negativ aufgefallen und nun sollte er unter dreisten Beleidigungen hinausgeschmissen werden? "Spinn ich jetzt? Was ist in diesem LADEN DENN LOS?!" begann er zu schreien, doch verstummte währenddessen von sich aus wieder, denn ihm wurde bewusst wie brutal er soeben die Atmosphäre in der Kneipe zerstört hatte. Schon konterte die Besitzerin ihm: "Also los jetzt, ich schaue hier nicht mehr länger zu! Entweder Sie gehorchen nun, oder ich rufe die Polizei!" Niedergeschlagen begriff er seine missliche Position. Er war nur ein vergnügter, unauffälliger Kunde dieser Frau gewesen, hatte sich von ihr aus unerfindlichen Gründen provozieren lassen und saß nun aufgrund seiner Reaktion trotzdem im Schneider. Zudem konnte er förmlich die Blicke der restlichen Gäste in seinem Rücken spüren, die ihn vorwurfsvoll und verärgert ansehen mussten. All diese sympathischen, liebevollen, gelassenen Menschen, die ihn akzeptiert hatten, mit denen er einen schönen Morgen verbracht hatte und für die er vorhin noch so viel Empathie empfunden hatte, waren jetzt mit einem mal gegen ihn, und das wahrscheinlich noch zurecht. Er fühlte sich schuldig und verraten zugleich. Dass seine Zeit hier nun abgelaufen war sah er jedoch ein, also kramte er in seinem Geldbeutel umher, betrieb höchsten Aufwand, den Betrag möglichst passend zusammen zu bekommen und legte ihn der immer noch Wartenden wuchtig auf die Bar. Dann ergriff er mit jeder Hand einen seiner bezahlten Schnäpse und stürzte sie schwungvoll, kurz nacheinander hinunter. Schließlich erhob er sich, ergriff seinen Paletot, der auf dem Nachbarhocker lag, und wandte sich mit dem beschämten Gefühl eines zu unrecht Verurteilten ab, um den Raum zu verlassen. Dabei achtete er angespannt darauf, sein Gesicht den anderen Gästen nicht mehr zu zeigen, da diese, aufgrund der zerplatzen Romantik, auf ihn ziemlich sauer sein mussten, was er auch vollkommen nachvollziehen konnte.

Die Tür fiel mit Glockengeläut hinter ihm ins Schloss, während er sich verloren, geblendet und erst jetzt die gesamte Situation vollständig begreifend, in der warmen Morgenluft wieder fand. Die Sonne stand mittlerweile schon über den Häusern, die sanfte, morgendliche Stimmung war entschwunden und auf den Straßen herrschte feierliches, jedoch hektisches Treiben von festtäglich gekleideten Kirchenbesuchern. Peter kam sich entwurzelt vor, als hätte er keine Vergangenheit und keine Zukunft, genau wie Feuerzungen, die nur so kurz existieren, dass keiner ihr Erscheinen und ihr Verschwinden überhaupt wahrnehmen kann. Eigentlich entsprach dieses Bild genau dem, das die meisten von ihm hatten, denen er Tag für Tag über den Weg lief, doch er persönlich sah sich zum ersten Mal aus dieser Perspektive. Ein Ziel, das er versuchen konnte anzustreben, hatte er den ganzen Morgen noch nicht gehabt und der einzige Ort, der ihm in den letzten Jahren ans Herz gewachsen war, war ihm nach einem einstündigen Aufenthalt wieder versagt worden. Er war im wahrsten Sinne des Wortes entwurzelt, dieses harte Schicksal kam ihm in diesem Moment schmerzlich ins Bewusstsein. Er bezog es allerdings nicht auf sein Leben als Gesamtes, sondern ausschließlich auf diesen Moment, denn viel weiter vermochte sein Verstand nur selten zu denken. Niedergeschlagen, und ohne wirklich zu wissen was er tat, begann er einen leidvollen Marsch ins Nirgendwo. Ohne es bewusst zu realisieren, lief er los, in die Menschenmengen hinein, deren reges Treiben er nicht einmal bemerkte. Nichts gab es für ihn zu tun, keiner erwartete ihn an einem gedeckten Tisch, keinen Pflichten hatte er nachzugehen. Es gab für Peter keinen Sinn überhaupt irgendwo hinzugehen. Der einzige Grund dafür, sich überhaupt fortzubewegen, war der, dass er es an diesem Ort nicht mehr aushielt. Es ging nicht darum, irgendwo anzukommen, sondern darum, hier zu verschwinden. Das Unrecht, das ihm angetan wurde, der Groll, der ihm gegenüber hinter diesen Mauern empfunden wurde und die Scham, die er gegenüber den Insassen dieses Hauses empfand, trieben ihn wegwärts, stießen ihn ab, schickten ihn hinfort, seinem ungewissen Schicksal entgegen. Sämtliche Erlebnisse der letzten Stunden liefen ihm dabei rückwärts am geistigen Auge vorbei, doch begreifen konnte er keines von ihnen. Er sah die friedliche Gesellschaft, die Besitzerin der Kneipe, ihr hübsches, liebevoll hergerichtetes Haus, den Streit mit dem alten Ehepaar, mit dem er einst befreundet gewesen war und er sah die frühmorgendlichen Straßen im sanften Nebel, dann verloren sich seine Erinnerungen wie gewohnt und auch nach längerem Nachsinnen, kam er nicht darauf, wo er diesen Morgen ursprünglich begonnen hatte. Da begriff er, wie jung der Tag noch war. Umso mehr schockierte es ihn, wie viel Unrecht und Streit er in den wenigen Stunden schon erfahren musste; wo sollte das heute noch hinführen? Er wusste es nicht. So ließ er sich gehen, schwankte zwischen geistiger Leere und gedankenvoller Überschwemmung und wanderte, wohin ihn die Füße trugen, der unheilvollen Zukunft entgegen.

Der Strom aus Menschen zog an Peter vorüber, als wäre er ein Fels in einem reißenden Bach. Er schritt rücksichtslos voran, doch alle Leute mieden ihn, wurden förmlich von ihm abgestoßen und drückten sich an ihm vorbei. Er passte eben so gar nicht in diese Situation, unter diese Leute, eigentlich in diese Welt. Für Aussteiger wie ihn war kein Platz in einem sozialen System, in dem man sich grüßte, affektiert lächelte oder sich zumindest gegenseitig darauf verlassen konnte, dass keine Gefahr von den Nachbarn ausging. Abtrünnige, wie er einer war, gehörten hinaus, in die weite Welt, hätten abseits der Zivilisation durch Wälder wandern und sich mit den Tieren vereinen sollen um dort draußen gemeinsam ihren Wahnsinn auszuleben. Doch dazu war er nicht imstande. Er brauchte Wände, Menschen, feste Umrisse um sich, die ihn immer wieder aus dem freien Fall auffingen und ihn zurück in die Ruinen seines Lebens brachten. Er brauchte altbekannte Formen und eine vertraute Umwelt, an denen sich zumindest seine Intuition orientierten konnte. Und er brauchte seinen Begleiter, der ihm den richtigen Weg wies und ihn anschließend verwirrte, seinen Kumpel, der ihn tröstete und in der nächsten Sekunde schon verspottete, seinen Helfer, der ihm die Hand reichte und ihm gleichzeitig ein Bein stellte, seine Zuflucht, die ihn sowohl schützte, als auch entblößte, seinen Lebensretter und Todfeind, den flüssigen Geist, den Alkohol. Ohne ihn wäre er keinen Tag auskommen. Nicht unbedingt der Sucht wegen, sondern aufgrund der einsamen, tragischen Realität, die ihn zerfressen hätte. Wahrscheinlich hätte er ohne ihn sofort Gespenster gesehen, hätte Stimmen gehört, wäre durchgedreht und schließlich einfach implodiert. Kurzum, er konnte diese Stadt mit all ihren verborgenen Erinnerungen und Stützen nicht verlassen. Es galt sich durchzukämpfen, das Leben herauszufordern. Und das tat er auf ganzer Linie. 
Die lange, dicht bewanderte Hauptstraße mit ihren unzähligen kleinen Cafés und Restaurants hatte er nun fast verlassen und kam in Richtung der außerhalb gelegenen Siedlungen. Als er die letzte Bar dieser Straße passierte, fiel ihm ein, sich um Proviant für seinen Spaziergang zu kümmern; schließlich wusste er selbst nicht wohin und wie lange es ihn noch durch diese seltsame Stadt treiben wird. So betrat er die besagte, letzte Bar der Straße und bestellte sich am Tresen eine Flasche Bier und ein Wurstbrötchen. Währenddessen sah er sich um und bemerkte die fiesen, herausfordernden Blicke der anderen Insassen. Jeder einzelne erweckte in Peter das Gefühl, als wäre er unerwünscht und wirklich verachtenswert. Er würde niemals wieder eine ähnliche Kneipe wie diese Letzte finden, das stand fest. Keine Ansammlung von Menschen, kein anderes Haus würden ihm jemals wieder diese Freude und dieses Gefühl der Zugehörigkeit und des Nachhausekommens geben können. Es war eine Tragödie. Wie konnte all das passieren? Verzweifelt bezahlte er seine Ware und verließ diesen Laden auf dem schnellsten Wege. 

Sein Brötchen essend lief er hinaus, in den ruhigeren Teil der Stadt. Nahezu menschenleere Straßen und klar strukturierte Vorgärten erwarteten ihn hier draußen, das war gut so. Nur Ruhe und Ordnung konnten ihm diesen Tag noch vor dem totalen Desaster retten. Selbstverloren schlenderte Peter durch die Stille der philisterhaften Vorstadt, erfreute sich der Gleichgültigkeit, die ihm hier entgegengebracht wurde, und konnte dem surrenden Kopf nun endlich Ruhe gönnen, denn sein Verstand wurde allmählich wieder klarer. Die frische Luft tat ihm wohl, senkte seine Trunkenheit und entwirrte das Schlamassel in seinem Kopf, sodass er seine Umwelt entspannt in sich eindringen lassen konnte um sie zu genießen und schätzen zu lernen. In diesem Teil der Stadt hielt er sich normalerweise nie auf, deshalb war alles aufregend und neu. Hinter Küchenfenstern standen eifrige Hausfrauen, die ihre familiären Pflichten erfüllten, glückselige Väter lagen in den Gärten, genossen den einzigen Tag der Woche, den sie ausschließlich dem Müßiggang widmen konnten und in den Vorhöfen rannten Kleinkinder umher, führten Sonnentänze auf, kreischten vor Freude und feierten die Unendlichkeit allen Seins ihrer kleinen, unantastbaren Welt. Peter genoss es, in den Nebenstraßen umher zu flanieren. Diese Art von Bevölkerung war für ihn in Ordnung, denn hier waren alle zufrieden, waren sich ihres Glückes bewusst und vergaßen die Probleme für einen Tag, ähnlich wie in der Kneipe von vorhin. Außerdem ließen sie ihn in Ruhe vorbei spazieren ohne doofe Mienen aufzusetzen und akzeptierten es, wenn er kurz inne hielt, den kleinen Familienfrieden mit Vergnügen bewunderte und somit selbst für kurze Zeit ein Teil dessen werden durfte. So konnte man leben, so war alles erträglich. Doch wie alles Schöne meist nicht lange anhält, war es an diesem Tag nicht anders. Die kleine, hübsche Familiensiedlung war bald zu Ende und mündete in den nächsten, noch weiter abgelegenen Stadtteil. Es war ein Industriegebiet, das allerdings am Sonntag ohne den Rauch der Schlöte, ohne das Brummen der Maschinen und ohne den Geruch der Arbeit hier im spätmorgendlichen Glanz der Sonne doch auch etwas geheimnisvoll-schönes hatte. Der eine besänftigende Stadtteil blieb zurück, und der nächste, vielleicht noch mehr besänftigendere, empfing ihn. Peter öffnete sein Bier, steckte sich eine Zigarette an und ging mit kindlicher Freude seinen Weg weiter, zwischen den schlummernden Fabriken hindurch. Ein unheimlicher, doch reizender Schauer überkam ihn. Es hatte etwas surreales und trügerisches an sich, in vollkommener Stille an riesigen Fabrikhallen vorbei zu gehen. Seine Erfahrungen und Erwartungen wurden quittiert, widerlegt, ja beinahe verspottet. Industriegebiete hatte er aus seinem früheren Berufsleben ausschließlich mit raucherfüllter Luft, schnaufenden LKWs und kontinuierlichem Lärm in Erinnerung. Die Produktionsstätten in Ruhe vorzufinden empfand er wie ein hinterlistiges Trugbild, wie einen schlechten Scherz; es war wie eine Geisterstadt zu betreten oder die offizielle Grenze der Zivilisation zu überschreiten. Diese seltsame Szenerie, die er einst als Sinnbild für den Fortschritt der Menschheit gehalten hatte, in Stillstand vorzufinden, wirkte befreiende auf ihn, beflügelte seine Stimmung noch weiter und spendete ihm auch Trost. Es beruhigte ihn, dass die pflichtbewussten Arbeiter dieser Stadt, und sogar die unermüdlichen Maschinen, sich auch ihre Ruhe gönnten um sich zu erholen. Er rechtfertigte also seine dauerhafte Untätigkeit mit der Ausnahme der anderen, großen Masse, ohne den Irrsinn dahinter zu entdecken und fand so für kurze, schöne Augenblicke erfüllten Seelenfrieden. Mit diesen Gefühlen wanderte der kleine Vergängliche durch die großen, beständigen Gebäude, wobei seine Stimmung in hohe Sphären stieg, die in seinem Leben nur ganz selten erreicht wurden. Selbstverloren, mondsüchtig, ja nahezu apathisch verlor er sich in den riesigen Welt der Industrie, ohne zu bemerken, wie er dabei auf neue Menschenmassen zusteuerte.