Dienstag, 7. Januar 2014

Stegreifauf-Sage, Teil 1/3

Schwere, prunkvolle Autos gleiten mit monotonem Rauschen über den Asphalt. Es ist die Zeit an einem werktäglichen Morgen, zu der der kleine Mann von der Nachtschicht in den unruhigen Schlaf verfällt, zu der die breite Masse der mittelständischen Familienväter gerade die erste Frühstückspause genießt und zu der die selbstgefälligen Großverdiener, gut erholt, ihre 95 Kilogramm Wohlstandsspeck mit einer Tonne Auto zur Arbeit befördern. Die Xenon Scheinwerfer verlieren mit dem fortschreitenden Morgen ihre Notwendigkeit, blinzeln kurz und gehen aus, die Straßenlaternen erlöschen auch und nach kurzer Zeit haben mich all die kleinen nächtlichen Begleiter im Rampenlicht des Lebens zurückgelassen…geblendet, vulnerabel und nackt. 
Baritonales Gemurmel erfüllt den Pausenhof; der Rauch meiner Zigarette vermischt sich mit dem frühherbstlichen Nebel zu einer heterogenen Masse. Leere, verzweifelte Blicke suchen einander, in der Hoffnung Halt zu finden…vergebens. Es ist Montagmorgen, erste Schulpause des Tages, und ich bin noch immer auf der Suche nach der verloren gegangenen Zeit.
In mir herrscht diese desolate Stimmung, die sich stets nach großen, vergangenen Ereignissen auf das Gemüt legt und einem den Boden unter den Füßen wegzieht. In Situation wie diesen wird man eins mit der Zeit, man existiert ausschließlich. Logisches Handeln wird unmöglich, denn das Bewusstsein ist weit entfernt, es hängt irgendwo zwischen den strahlenden, goldenen Erinnerungen an das Vergangene und einer Ahnung an die bevorstehende, graue Zukunft; die höchste Form der Melancholie, unantastbar für andere Gefühlsregungen.
Unbewusst spüre ich, dass es dem Großteil der anderen Schüler genauso ergeht. Von unserer Gruppe geht ausschließlich ein leises Summen aus; einzelne Gesprächsfetzen, Lappalien, die miteinander konvergieren und dieses dumpfe Summen erzeugen das fast einem Winseln gleicht, einem Winseln nach Amnestie vor dem großen mächtigen Richter.
Wir alle sind am Wochenende um ein paar Geschichten älter geworden, haben Wunder erlebt und mit den Sternen getanzt; manche haben Zeit verloren, manche haben Zeit gewonnen, wir alle waren wieder draußen im Kosmos, an der Grenze des Möglichen, an der Schwelle zur Unendlichkeit und wir alle haben wieder ein Stück Jugend verloren. Blauäugig stürzten wir uns in den Wettlauf gegen die Zeit und wurden am Ende von der Realität eingeholt.
Hier sind wir nun wieder, der Schwung ist raus, die Spannung verloren. Es ist der große Fall nach dem Hoch. Träume zerplatzen, Visionen vertrocknen und härten aus. Schleppend kommt die Realität zurück, nimmt Konturen an und wird nahezu greifbar. Unser gemeinsam errichtetes Schloss aus Hoffnungen versinkt im Treibsand des Lebens.
Hier auf dem Schülerparkplatz finden wir uns alle wieder, ganz langsam, Stück für Stück und ganz unbewusst. Jeder ist noch in seiner eigenen kleinen Welt. Die ersten beiden vorangegangenen Schulstunden sind längst vergessen. Unwiderruflich verschwimmen die letzten Erlebnisse und verfliegen schon kurz darauf im Wind. Wer die Jugend weise nutzt, vergisst die Alltagsbegegnungen und schafft Platz im Kopf für die Momente jenseits von Zeit und Raum…
Der Großteil unserer Gruppe starrt ausdruckslos ins Leere, als würden wir noch Schlafwandeln oder als hätten wir soeben die Todesnachricht von drei engen Bekannten bekommen. Andere blicken schmerzverzerrt und mit der Nervosität eines Junkies auf Entzug umher; sie wirken, als hätten sie Angst, ihren Blick auf einem konkreten Gegenstand haften zu lassen. Sie alle werden gerade von der aufschäumenden Rache des Lebens vergewaltigt, der große Richter fordert Tribut. Doch ein paar Ausnahmen gibt es. Ab und an kann man ein Gesicht erhaschen, aus dem ein romantisch-schelmisches Grinsen funkelt. Die Typen stehen genauso regungslos, isoliert und schweigsam herum wie der Rest, jedoch dringt ein perverses Grinsen aus ihnen heraus, dessen sie sich selbst gar nicht bewusst sind. Und genau diese paar Typen sind es, die noch komplett im Jenseits sind. In ihnen kitzelt noch der Drang nach mehr, atmet noch der durstige Wolf und glimmt noch die infantile Seele…noch! Bald wird die Ernüchterung einsetzen. Die Knie werden weich werden und die Hoffnungen verglimmen und dann stürzen sie mit uns hinab…zurück zu den Sterblichen. 
Die verhaltene, anonyme Stimmung, wie sie sonst nur Sonntagfrüh auf Autobahnrastplätzen herrscht, wird von der Schulglocke zerrissen. Schrill und erbarmungslos bringt uns das Läuten der Gravitation ein weiteres Stück näher. Mein kalter Körper erschaudert in der kalten Morgenluft. Ein Ruck geht durch die Rauchergruppe, die Zigaretten verglühen und allmählich kommt die träge Masse in Schwung und wird wie durch einen Sog zum Eingang hingezogen. Auf dem Weg dorthin nehme ich stellenweise Gesprächsfetzen der Anderen auf: "Hoffentlich fragt sie Unit 3 noch nicht ab…", "Jetzt hab ich null Bock auf dem seine linearen Gleichungssysteme..", "Wann war die endgültige Kapitulation nochmal?",… Arme Hunde. Einige wenige sind anscheinend schon wieder zurück, haben im Alltag Fuß gefasst und halten den großen ganzen Schulmechanismus am Laufen, in der Hoffnung, wir würden bald zur Unterstützung eilen…vorerst auch vergebens.
Wie Soldaten beim Morgenappell schlurfen wir geistesabwesend und in Reihe und Glied in das Klassenzimmer. Mit hysterischen Gesten und wildem Gerede empfangen uns dort die Versager unserer Klasse, die ihre Pause damit zugebracht haben über mögliche Stegreifaufgaben- und Abfragethemen zu debattieren. Zwar gibt es in unserer Klasse keine Ausgrenzung oder Mobbing, aber inoffiziell ist allen klar, mit wem es sich lohnt abzugeben, und mit wem nicht. Jeder weiß, dass diese verschrobenen Typen keinen sozialen Vorgarten besitzen, dass sie nie einer Frau hinterherschauen würden und vor allem wie ihre Wochenenden ablaufen. Jetzt, Montagmorgen, stürzen sie sich auf uns, voller Lebenslust und Tatendrang, mit ihren Brillen und ihren ausgewaschenen Kapuzenpullis, um uns mit ihren wilden Hypothesen des Schulalltags zu bedrängen. Doch ich ducke mich unter allen hindurch, visiere einen Stift auf meinem Tisch an und taumle in Richtung desselben. Währenddessen schwirren mir wirre Gedanken durch den Kopf, die unsere Klassenstreber hervorgerufen haben. Diese Typen gehen nie unter Leute, geschweige denn feiern und erstrecht gehen sie nie aus sich heraus. Sie sind immer bei vollem Bewusstsein, am Nerv der Zeit und stets bereit zu handeln. Sie nehmen vom Leben viel mehr wahr als wir und doch verpassen sie das Meiste. Die Ironie des Lebens überwältigt mich immer wieder auf's neue… Doch jetzt ist kein guter Zeitpunkt um in derartige Gedankengänge abzudriften, deshalb lasse ich schnell davon ab um nicht komplett durchzudrehen. Lautlos sinke ich auf meinen Sitzplatz, greife nach dem Stift und lasse mich sanft von meinen eigenen, persönlichen und vor allem ungefährlichen Gedanken in Trance wiegen. So ist das gut, so muss das sein. Ich starre zum Fenster hinaus, beobachte wie sich der Pausenhof leert und nehme meine verträumten Gleichgesinnten, die aufgekratzten, übermotivierten Freaks und den eintretenden Lehrer, gar nicht wahr. Vor dem Fenster herrscht Aufbruchsstimmung. Die letzten Schüler verlassen den Pausenhof um in den Unterricht zurückzukehren und der Sommer ist damit beschäftigt, mit all seinen Untertanen und Begleitern zusammenzupacken und abzuziehen. Der Luft nimmt er den Duft, den Vögeln die Lebensfreude, der Stadt die Sympathie, den Blumen ihr Antlitz und den Blättern ihr Blattgrün. Alles wendet sich zum schlechten. „…den Stoff der letzten Stunde durchzulesen und ein paar Aufgaben zur Polynomdivison zu rechnen…“. Das Präludium unseres Dirigenten der großen Mathematikoper streift nur an meinen Ohren vorüber, berührt sie leicht, aber wie eine Biene, die einer Blüte sofort ihre Unfruchtbarkeit ansieht, ziehen die Worte gleich weiter ohne auch nur den Ansatz einer Empfängnis zu versuchen. 
Genau diese Wochen im Frühherbst, in denen der Sommer sogar noch größtenteils dominiert und den Bäumen ihr mannigfaltiges Schauspiel auf die Blätter pinselt, genau diese Wochen sind die schlimmsten des ganzen Jahres. Zwar ist das Klima noch angenehm und die Natur lädt noch auf Vergnügungen ein, jedoch pocht tief im Hinterkopf schon die leise Vorahnung dessen, was uns nun für das nächste halbe Jahr bevorstehen wird. Alle Späße und Freuden der letzten Monate werden in den goldenen Herbstwochen begraben, für immer verschütt, unwiederbringbar. „…können doch nicht einfach das Vorzeichen vertauschen?! Sowas darf ihnen nicht mehr passieren, das muss in ihre Köpfe…“. Egal welche Freuden der vergehende Sommer für mich auch immer gebracht hat, in dieser Herbstzeit hat man immer den Eindruck zu wenig aus den warmen Tagen rausgeholt zu haben. Eine gefährliche Zeit, diese Herbstwochen. Vor allem für Liebende! Wer eine ehemals leidenschaftliche Beziehung ausgerechnet in diesen Herbsttagen gegen die Wand fährt, für den wird es nicht einfach werden! „…euer Buch auf Seite 57 auf und lest euch den roten Kasten…“. Liebeskummer entblößt uns, macht uns verwundbar und zeigt uns von unserer innersten, verletzlichsten Seite. In solch einem Zustand sollte man nicht mit trostlosen Aussichten und vergänglicher Schönheit konfrontiert werden. „…also packt eure Sachen weg, wir schreiben eine Stegreifaufgabe." ...

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