Freitag, 9. Mai 2014

Auf den Irrwegen der Zeit, Teil 1/4

Klebrig-süßer Geruch erfüllte die sauerstoffarme Luft in der Kneipe des Wirtes Andreas, während er damit beschäftigt war die Bierrückstände vom Tresen aufzuwischen. Trocknender Alkohol stieß beißenden Geruch aus, kalte Aschenbecher gaben dem noch Lebenden eine Ahnung wie der Tod riecht und Kerzen, die nach und nach in den verschiedensten Ecken verglimmten, bliesen schwarze Rußwolken als Zeichen ihres Ablebens in den feuchten Trinkeratem, der in jedem Winkel des Raumes festhing. Es war fünf Uhr morgens. Die letzten Besucher, die die Nacht damit zugebracht hatten, hier ihrem Leben zu entfliehen, waren auf dem Heimweg, zurück in die Realität, und Andreas selbst war damit beschäftigt, seinen Laden in den Urzustand zu bringen, um ihn am Abend erneut dem Wahnsinn auszusetzen. Ausgelaugt und selbst halb besoffen wandelte er geistesabwesend durch seine Räumlichkeiten und wickelte die anstehenden Arbeiten automatisch ab, wie es nur ein einfältiger Mann kann, der seit Jahren nichts anderes getan hat. 
Es herrschte nahezu unheilvolle Stille in der Kneipe. Nur wenn man gut hinhörte, konnte man das Plätschern des Wasserhahns, das Drehen des Plattentellers, der immer noch rotierte obwohl die letzte Scheibe seit über einer halben Stunde zu Ende war, und das Schnarchen eines hageren, zerzausten Mannes vernehmen, der in einem finsteren Eck neben einer Kerze auf dem Fensterbrett schlief. Er saß schräg auf einer Eckbank und lag vornüber gebeugt, sich mit dem rechten, ausgestrecktem Arm auf dem Sims festhaltend, mit dem Gesicht auf seinem Oberarm. Die Schultern hingen leblos nach unten, unter seinem Kinn stapelten sich Hautfalten und sein Gesicht war komplett eingefallen. Die schlaffe Backenhaut entblößte seine einst starken Wangenknochen, zog gleichzeitig die Mundwinkel mit nach unten und machte es nahezu unmöglich, sich den früheren Glanz dieses Mannes vorstellen zu können. Allgemein hatte er ein unschönes, fast abweisendes, äußeres Erscheinungsbild, doch seine friedvolle Schlafstellung verlieh seiner Aura in diesem Augenblick auch etwas liebevolles und die tiefen, dunklen Augenringe schienen dem Beobachter sagen zu wollen, dass hinter dem Aussehen dieses Mannes großes Leid verborgen war. Auf dem Tisch vor ihm standen zwei leere Bierkrüge, mehrere Schnapsgläser und auf dem Deckel häuften sich diese noch vielfach. 
Sein Name war Peter und er war der beste Freund des Wirtes Andreas. Dies war der Grund, weshalb er seine trunkenen Träumereien hier länger ausleben durfte, als der Rest der Kundschaft. Allerdings war nun auch für ihn der Zeitpunkt gekommen, an dem er zu seiner Odyssee nach Hause aufbrechen musste, denn der Wirt hatte alle Arbeiten abgeschlossen und machte sich darüber, Peter aufzuwecken. Er stellte ein Glas Wasser vor ihm auf den Tisch und sah seinen Kindheitsfreund mit leidvollem Blick an, während er schwer einatmete und anschließend mit einem leeren Bierkrug auf den Tisch klopfte. "Hey Pete!" - so nannten ihn seine wenigen Freunde - " Komm schon, aufstehen!" schallte es durch den ruhigen Raum, wovon selbst der Wirt etwas erschrak. Dann schlug er dem Schlafenden mit einfühlsamer Stärke auf die Backen und schon durchfuhr Peter ein erwachendes Zucken. Er regte sich kurz, veränderte seine Stellung etwas und ging dann wieder in den Schlaf über, worauf der Wirt sofort ein weiteres mal mit dem Krug auf den Tisch klopfte. "Hey, reiß dich zusammen! Ich will dicht machen, steht jetzt auf!" Da schlug er endlich zaghaft die Augen auf, strich sich mit einer Hand über's Gesicht und blickte orientierungslos umher. Andreas reichte ihm das Glas Wasser und während er einige Kerzen ausblies erklärte er dem Verwirrten die Situation: "Also los Pete, trink aus und dann sieh zu, dass du nach Hause kommst! Es ist Halbsechs, höchste Zeit für uns beide!" Peters Augen streiften dabei verhalten umher und versuchten die Anzahl an Eindrücken zu sammeln, die nötig war, um ihm verständlich zu machen, wo er sich befand. Allmählich schwand sein leerer Blick und es erschien ein Gesichtsausdruck, der angenehme Unwissenheit verkörperte. Dann ergriff ihn das anständige Pflichtbewusstsein, das in jedem Trinker schlummert, der sich in seiner Stammkneipe befindet, und er hob sein Glas, das er mit großen Schlücken leerte. Schließlich stand er schwankend auf, suchte in seiner Hemdtasche nach einer Zigarette während sein Blick auf einer Stelle auf dem Boden fixiert war und als der erste kräftige Atemzug die Lungen mit Rauch füllte begann er einen Fuß vor den anderen in Richtung der Tür zu setzen. Dort wartete der Wirt auf ihn um mit einer Umarmung Abschied von ihm zu nehmen. Doch Peter, dessen Bewusstsein noch halb in Schlaf und halb in Alkohol getränkt war, lief apathisch an ihm vorüber, hinaus auf den Gehsteig. Da griff ihm Andreas von hinten an die Schulter um wenigstens ein Fragment der früheren Tage der Freundschaft aufrechtzuerhalten und nuschelte ihm ins Ohr: "Mach's gut, alter Junge. Pass auf dich auf und schau morgen wieder bei mir vorbei, hörst du?" Peter wandte seinen Kopf wie ferngesteuert um und sah seinen besten Bekannten wie einen Fremden mit fragenden Augen an. Nach einigen langen, wortlosen Sekunden sank sein Blick wieder nach unten, er nickte geistesabwesend um Verständnis dessen, was gesagt wurde, vorzutäuschen und schließlich schlurfte er davon in die Morgendämmerung. 
   Andreas sah Peter noch eine ganze Zeit lang nach, wie er lust- und ziellos die Straße entlang ins Zwielicht des aufkommenden Morgens stolperte. Wie im Zeitraffer liefen die unzähligen, warmen Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit an seinem inneren Auge vorüber während er den menschlichen Kadaver dabei beobachtet, wie er von der erwachenden Stadt verschluckt wurde. Schließlich resignierte er in der pragmatischen Einsicht, dass die Melancholie nach all den Jahren nutzlos war und begab sich nach drinnen, um die nötigen Stunden Schlaf zu finden, ohne die er die nächste Nacht nicht überstehen würde.

Peter hingegen kam noch lange nicht in den Sinn schlafen zu gehen. Allgemein kam ihm eigentlich gar nichts in den Sinn. Ihn erfüllte der herrliche, befreiende Stumpfsinn, der Grund dafür ist, dass Trinker trinken und Abstinenzler abstinent sind. Kreative und tatkräftige Personen fühlen sich in diesem Zustand ekelerregend, verachtenswert, ja nahezu lebensunwürdig, wohingegen ein Trinker während der Nüchternheitsperioden mit diesen desolaten Selbstvorwürfen zu kämpfen hat und mit Hilfe des Trinkens versucht, in seine eigene, heile und bedeutungslose Welt zu flüchten. Peter gehörte Letzteren an und befand sich gerade in seinem geistigen Refugium, das ihm die Existenz in dieser fremden Welt überhaupt noch ermöglichte. Die Fassaden wanderten ungeachtet an ihm vorbei, die aufgehende Sonne bemerkte er nicht und die Menschen erwachten fröhlich und zufrieden, ohne dass er einen von ihnen kannte; das Leben dieser Stadt zog stets wie ein flüchtiger Schatten an ihm vorüber.
Die Sonne stieg konstant weiter in den kühlen Maimorgen, doch konnte sie sich noch nicht in ihrer vollen Pracht entfalten, denn ein seichter Nebel umhüllte das Treiben der Stadt. Das Vogelgezwitscher, die Häuserfassaden und selbst der Brotgeruch, der von einer Bäckerei aus durch die Straßen strömte, sämtliche Eindrücke wurden durch den Nebel sanft gedämpft und kamen Peter dadurch besonders angenehm und schonend für sein nacktes Gemüt vor. Außerdem war er ihm Nebel sicher, fühlte sich unbeobachtet und konnte sich und seinen dumpfen Gedanken freien Lauf lassen. Seit knapp einer Stunde flanierte er nun schon sinnlos umher, doch während dieser ganzen Zeit war ihm noch keine Menschenseele über den Weg gelaufen; überall herrschte die verhaltene, private Stimmung wie sie nur an einem Sonntagmorgen in einer Kleinstadt möglich ist. Die reine Luft begann langsam ihre Wirkung zu zeigen indem sie seinem Kopf Klarheit verlieh und sein Bewusstsein sukzessive auf die Realität schärfte. Jedoch hieß das nur, dass er seine Umgebung allmählich wahrnahm, nicht jedoch, dass er wusste wohin er ging, woher er kam oder was er tat. Die bösen Geister hielten immer noch die Hauptzügel in der Hand und so steuerten sie ihn tiefer und tiefer in die unbekannten Straßen, die ihm einst so vertraut und voll von Freunden waren. 
Dabei drang ihm zuerst ganz leise, doch mit konstantem Crescendo ansteigend, eine verschwommen, weinende Melodie in die müden Gehirnwindungen, die ihm anfangs lediglich wie der Klang eines verheißungsvollen Sonntagmorgen vorkam, doch allmählich zu einer bedeutungsvollen Hymne wurde. Aus fernen Tiefen stieg sie auf, erfüllte Zeit und Raum und nahm sein gesamtes, verfügbares Auffassungsvermögen in Anspruch. Furchtlos ließ er sich von den langgezogenen Noten und den sanften, monotonen Takten ausfüllen, die ihm melancholischen Trost bereiteten und, genau wie der Alkohol, seine Gedanken liebevoll in Watte betteten. Doch je länger die Töne ihn umschwirrten, desto mehr kamen sie ihm vertraut vor und desto mehr gewannen sie für ihn an Bedeutung. Die Melodie wurde für ihn zu einer Zeitreise zurück in alte, zufriedene Tage. Lang vergessene Gedächtnisfetzen huschten ihm durch den Kopf und durchwühlten seine staubigen Erinnerungen, ohne dass er den einzelnen Bildern ein bestimmtes Erlebnis oder eine besondere Bedeutung hätte zuordnen können, doch er wusste, dass das Lied aus Tagen seiner Jugend zurück zu ihm kam und, dass es einst von großer Wichtigkeit für ihn gewesen ist. Schließlich traten ihm sogar wieder einzelne Textpassagen in Erinnerung, doch konnte er sich nicht entsinnen woher sie kamen. 

                   "...Ancient bonds are breaking, 
                   Moving on and changing sides..." 

Soweit er in der Verfassung war, sich zu konzentrieren, grub er in den Tiefen seines Erinnerungsvermögens, aber es wollte ihm kein Moment, kein Gesicht, nicht einmal der Interpret zu der geheimnisvollen Melodie einfallen, die ihn mehr und mehr vereinnahmte. Dabei steigerten sich die nervösen Reize, eine Antwort zu finden, bis ins Unangenehme, wodurch er nur noch hektischer nachdachte.

                   "...Dreaming of a new day,
                   cast aside the other way..."

Der Alkohol durchspülte noch zu sehr sein Gehirn, als dass er zu Geistesblitzen fähig gewesen wäre, doch nach und nach begann er sich einzubilden, eine richtige Fährte gefunden zu haben und vertiefte die Kontemplation auf seine frühen Jugendjahre. Ihm erschien sein altes Elternhaus mit dem weitläufigen, gut bepflanzten Garten, seine alten Klassenkameraden und die gut aussehende Lehrerin der elften Klasse, er sah die weiten Kornfelder, die tiefen Wälder des damals noch unbebauten, vorstädtischen Landes und er sah die reizvollen, überirdischen Mädchen, die wie plötzlich aus allen Ecken seines Umfeldes auftauchten und seine unerfahrenen Sinne verwirrten. Hier, in dieser Ecke seiner Vergangenheit, war er sich sicher, die Antwort auf die magische Melodie zu finden, also suchte er aufgeregt weiter in den Erinnerungen, die ihm seit vielen Jahren verwahrt geblieben waren, bis er urplötzlich und unerwartet aus seinem Nachsinnen gerissen wurde. "Na, Pete? Guten Morgen, mein Freund! Was treibst du denn schon hier um diese Uhrzeit bei uns im Neubaugebiet?"
   Erschrocken wirbelte Peter herum, verlor instantan sämtlichen Bezug zu seinen Gedanken und versuchte auszumachen wo er war, was geschah, wer ihn angesprochen hatte. Er erblickte einen älteren Mann mit seiner Frau, die Arm in Arm vor ihm standen und ihn mit fragender Freundlichkeit anstarrten. Die Visage des Mannes kam ihm nicht ganz unbekannt vor und die der Frau war auch schemenhaft in seiner Erinnerung zu finden, doch konnte er den beiden, wie der soeben verklungenen Melodie, keinen Namen zuordnen oder die entscheidende Verbindung zu seiner eigenen Vergangenheit herstellen. Dass diese Verbindung jedoch bestand war für ihn klar; das verriet zum einen seine Intuition und zum anderen der zutrauliche Blick seiner beiden Gegenüber. Doch waren die Folgen seiner Trinkerei, namentlich die der Amnesie, zu tiefgreifend um sie so spontan überwinden zu können. Verlegen mied er jeglichen Augenkontakt mit dem Ehepaar und hörte plötzlich sich selbst, wie er versuchte möglichst harmlos zu antworten. "Mmmhh, oh! G'n Morgeen! Was gib's?!" Darauf brach er in einen ächzenden Hustenanfall aus, der ihn vornüber beugen ließ und einige Momente Zeit in Anspruch nahm, bis er wieder aufrecht vor seinen ehemaligen Bekannten stehen konnte. Die Miene der Frau ging sofort in eine reservierte Vorsicht über, doch ihr Lebenspartner hielt seine Freundlichkeit affektiert aufrecht und entgegnete: "Mensch Pete, was ist denn los mit dir? Kennst du mich nicht mehr? Wir waren früher in einer Klasse! Ich bin's, der David!" Peter wagte einen flüchtigen Blick über das Gesicht seines alten Klassenkameraden, wobei es ihm tatsächlich so vorkam, als könnte dieser damit durchaus recht haben. Völlig überfordert und mit dem einzigen Ziel im Hinterkopf, dieses Gespräch so schnell und glimpflich wie möglich beenden zu können, nahm er sich zusammen und antwortet: "Aaach natü'lich! David! Wie könn'e ich s'was vergess'n?" Während sich die Frau langsam hinter ihren Mann schob, wich aus dessen Blick ebenfalls die Offenherzigkeit und so etwas wie mitleidig-schockiertes Entsetzen stand ihm unfehlbar ins Gesicht geschrieben. Sichtlich angestrengt, weitere Worte zu finden, sagte er: "Ohoh, was ist denn mit dir los? Sag bloß, du trinkst immer noch?", worauf Pete dezidiert entgegensteuerte: "Neeein, nein, nein! 's is nich' so wie du denkst!" und ein weiterer Hustreiz überkam ihn, wobei ihm jetzt der Mann zu Hilfe kam, ihn am Arm packte und zaghaft auf den Rücken klopfte. Dabei versuchte er weiter auf Peter einzureden. "Was machst du denn für Sachen? Wir haben dir schon oft gesagt, dass du so nicht weiter machen kannst. Der Schnaps und die Zigaretten bringen dich in den nächsten Jahren ins Grab, wenn du so weiter machst!" Doch diese Art von Gerede war das Letzte, das Peter leiden konnte; erstrecht wenn es von einem bodenständigen, verheirateten Mann kam, dessen Leben nach Plan verlief und dessen Ansehen mit steigendem Alter ebenfalls anstieg. Verbittert entriss er sich dem Griff des Hilfeleistenden, stütze sich mit den Händen auf seinen Knien nach oben und versuchte möglichst imposant dem Unwissenden zu erzählen, was Sache war. "Aaach lasst mich doch alle in Ruuhhe! Was wisst ihr den schon?! Los, geht weiter in'ie Kirche und betet, dass euer Leben weiterhin sorglos dahinplätschert!". An die Wand gestützt, enthusiastisch mit den Armen wedelnd und mit feuchter Aussprache schmiss er dem schockierten Ehepaar diese erbärmlichen Sätze entgegen, während diese, aus Angst er könnte handgreiflich werden, stetig zurückwichen. Als der Schall der Worte in der Straße verhallte und erneut die friedliche Stille einkehrte, ergriff der Verheiratete die Initiative, packte seine Frau am Arm und zerrte sie eiligen Schrittes von Peter weg, die Straße hinunter. "Komm Andrea, dieser Spinner kann unsere Hilfe nicht gebrauchen. Sehen wir zu, dass wir hier verschwinden." So liefen sie hastig davon und als sie sich in sicherem Abstand befanden, wandte er sich während des Gehens noch einmal um und rief zurück: "Als ein ehemaliger, guter Freund wollte ich dir helfen, wollte dir einen guten Rat geben und das ist nun der Dank? DAS IST DER DANK? Sieh doch zu, wie du deinen Mist alleine regelst und halte dich ab sofort von uns fern! Hast du verstanden?!" Mit diesen Worten verschwanden sie in der Biegung der Straße und ließen Peter im nun zerstörten Frieden des Sonntagmorgen zurück, der nach Luft ringend, nach vorne gebeugt an der Hauswand lehnte und durch die Aufregung der Nüchternheit sofort ein ganzes Stück näher gekommen war. 

Peter war ein Mann von fünfzig Jahren, der seine Vergangenheit verdrängt, seine Gegenwart verschmutzt, und seine Zukunft aus den Augen verloren hatte. Er war ein existenzloser Flüchtling, der von den Wissenden missachtet, und von den Unwissenden übersehen wurde. Einst war er glücklich verheiratet gewesen, hatte mit seiner hübschen Frau bereits den ersten Sohn und war auf dem besten Wege mit einer beneidenswerten Familie und einem ehrenwerten Beruf in den Sonnenuntergang des Lebens zu segeln. Doch dann, vor elf Jahren, kam dieser eine Tag, der im Leben eines jeden Menschen früher oder später kommt, und der das Leben des Betroffenen ein für alle Mal verändern wird; manchmal zum Guten, manchmal zum Schlechten und bei ihm eben zum Letzteren. Diesen Tag hatte er nie vergessen, als er auf der Arbeit die Nachricht vom Tode seiner Frau und seines Sohnes erfahren hatte. Beide wurden in ihrem Auto Opfer eines unvorsichtigen Rentners, der ein Stoppschild übersehen hatte und dadurch das Auto samt Mutter und Kind einen Hügel hinunter geschleudert hatte. Jegliche Hilfe kam zu spät, sodass Peter binnen weniger Sekunden alles verlor, was sein Leben lebenswert gemacht hatte. Bis zu diesem Zeitpunkt war alles perfekt verlaufen. Die Erfolgskurve seines Lebens war bis dahin exponentiell nach oben angestiegen. Doch in diesem einen Moment brach der Erfolg, die Kurve rauschte abwärts bis hin zur Unkenntlichkeit und löste sich auf, um nie mehr wiederzukehren. Dieser eine Augenblick zog ihm den Boden unter den Füßen weg, ließ ihm schwarz um die Augen werden, absorbierte sämtliche Gefühlsregungen und übrig blieb ein klappriges Nervengerüst aus Selbstvorwürfen, exzentrischer Melancholie und psychotischer Apathie. An diesem Tag verließ er die Firma um die Kneipe seines Freundes aufzusuchen und um nie wieder zurückzukehren. Seitdem wandelte er durch das Leben wie von der Mondsucht besessen und wie von bösen Geistern angelockt. Alle Bekannten, Verwandten, Freunde und Nachbarn hatten über die Jahre hinweg versucht Hilfe zu leisten, doch sämtliche Versuche, ihn zurück in ein tolerables Leben zu bringen, schlugen brutal fehl. Nach und nach verließen ihn seine gutherzigen Unterstützer aus verschiedensten Beweggründen, die von Hilflosigkeit bis Körperverletzung reichten, und die einzige Person, die er nun nach all den Jahren noch hatte, war sein treuer Sandkastenfreund Andreas. Er war zu gutherzig und zu emotional gebunden, um Peter auf den weiten, gefährlichen Weltmeeren der Abtrünnigen auszusetzen, deshalb bot er ihm einen Hafen, in den er stets einkehren konnte und in dem er einen festen Anlegeplatz hatte um seinem Leben wenigstens ein kleines Stück Kontinuität zu verleihen. Außerdem bot er ihm auch einen Job im Ausschank an, den Thomas täglich von siebzehn bis zweiundzwanzig Uhr wahrnahm um sich seinen kläglichen Alltag zu finanzieren. Nach Beendigung seiner Arbeit begab er sich stets einfach auf die andere Seite der Bar um seinem Leben, jeden Abend auf's Neue, seine ganz eigene Vorstellung von Bedeutung und Inhalt zu verleihen.

Auf diese Weise verschwendete er nun seit gut zehn Jahren das, was von seinem Leben übrig geblieben war, und steuerte unbewusst auf die große, schwarze Schlucht zu, bei der alles mit einem lauten Knall zu Ende gehen würde.

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