Samstag, 8. März 2014

Im Schatten der Nacht Teil 1/3

Im Schatten der Nacht

Vom Geschrei aus der Küche verfolgt, flüchtete Thomas die Treppen nach oben in sein Zimmer. Dort angekommen schnappte er sich seine Jacke, schlüpfte schnell in die Schuhe und befand sich wenige Augenblicke später schon wieder auf dem Weg nach unten. Eilig, doch gleichzeitig bemüht keinen Laut von sich zu geben, stürzte er die Treppe hinunter und von Schritt zu Schritt wurde der Lärm von unten wieder lauter. Als er die Küchentür passierte, schnappte er einen Satzfetzen seines Vaters auf. „Seid ihr jetzt alle verrückt geworden?! Wie oft soll ich euch noch sagen, dass im Winter die Küchenfenster geschlossen bleiben, hm!?“ Doch das nahm Thomas gar nicht wirklich wahr. Zu oft hatte er solche Streitereien schon mitbekommen und zu oft war er ihnen schon entflüchtet. Sein kindlicher Verstand hatte über die Jahre eine Art Schutzreflex entwickelt, der es ihm ermöglichte einfach abschalten und weghören zu können, sodass die fingierten Probleme der Erwachsenen seine reine, zarte Seele nicht verunreinigen konnten. Schnell eilte er weiter in Richtung Haustür, schnappte sich einen Haustürschlüssel und huschte nach draußen in die warme Mainacht. Die Tür fiel ins Schloss, verbannte damit den Lärm nach drinnen und sofort war Thomas von der Macht der Nacht eingenommen. Wie sehr liebte er doch diesen Moment! Wie viele Stunden hatte er schon im Tageslicht verbracht, in denen er nichts tat, als die Dämmerung zu ersehnen? Und wie viele glanzvolle Momente hatte ihm die Dunkelheit schon beschert, die tagsüber überhaupt nicht möglich wären! So jung und klein und unbestimmt Thomas’ Leben bis jetzt war, aber eines konnte man sagen: Er war ein Kind der Nacht, ein Schattenmensch, ein Untertan der Finsternis. Tagsüber wusste er nichts mit sich anzufangen, nichts war interessant, nichts machte Sinn. Doch sobald die Nacht ihren Schleier ausbreitete und die unwichtigen Erscheinungen des Lebens retuschierte, konnte er sich auf das Schöne konzentrieren. Alles was die Nacht nicht vereinnahmt, sondern für Nachtwanderer wie Thomas in Reichweite lässt, ist vollkommen und rein, fühlt sich gut an und macht glücklich. Und genauso war es in diesem Moment. Er schloss die Augen, atmete tief ein und spürte förmlich wie die totale Stille der Nacht ihn überkam und sich ein Grinsen in seine Gesichtszüge schlich. Endlich war er wieder draußen in der Dunkelheit, endlich war er wieder zuhause. Selbstzufrieden lief Thomas los, die Straße hinunter, direkt ins vorstädtische Labyrinth aus spärlich beleuchteten Seitenstraßen und stockfinsteren Fußgängerwegen.
Schon nachdem er den Lichtkegel der zweiten Straßenlaterne durchquert hatte, war sein Bewusstsein komplett mit nächtlichen Gedanken erfüllt und der Ärger zuhause war längst verflogen. Gemächlich lief er umher, sog begeistert sämtliche Eindrücke in sich auf und verlor sich in ihnen. Lediglich die Uhrzeit behielt er stets im Hinterkopf, denn um Halbzehn musste er beim kleinen Aussichtsturm hinter der Kirche sein, doch bis dahin war noch über eine Stunde Zeit. Also ging er weiter und weiter, immer tiefer in die Nacht hinein, auf der Suche nach den größten Schatten, dem klarsten Sternenhimmel und dem dunkelsten Hinterhof. Obwohl er seine Spaziergänge zu Zeiten machte, zu denen seine gleichaltrigen Mitschüler schon längst im Bett lagen und aus Angst vor der Dunkelheit ihre Laterna magica beobachteten, kam es bei ihm nie vor, das er sich von Furchtgedanken den Glanz der Nacht hätte zerstören lassen. Im Gegenteil suchte er die dunkelsten Orte und fühlte sich erst dort wirklich sicher. An böse Räuber, die hinter der nächsten Mauer lauern könnten, glaubte er nicht, erstrecht nicht in der beschaulichen Vorstadt. Wovor er sich fürchtete, waren die Blicke der Gesellschaft, denen man tagsüber auf den Straßen gnadenlos ausgesetzt war. Die fragenden Blicke der Fremden, die vorwurfsvollen Blicke der Erwachsenen, die fröhlichen Blicke der Klassenkameraden; alle glaubten sie bescheid zu wissen, doch was wussten sie schon? Nichts wussten sie! Selbst der Pfarrer und die Lehrer verloren nach den ersten Wochen des Kennenlernens den Reiz, den ihre unverständlichen Weisheiten und ihre übersinnlichen Gesichtszüge einst verhießen. Nur ihre bohrenden Blicke behielten sie stets bei und lauerten mit ihnen in den Geschäften, hinter Fensterscheiben oder um der nächsten Ecke. Außer zur Nacht. Deshalb ging Thomas oft der Gedanke durch den Kopf, dass man nachts vor allem sicher sei, außer vor dem Morgengrauen und dass man nachts nichts zu fürchten hatte, außer die Furcht an sich. Jedoch hatte diese Denkweise ziemlich viele Nachteile für ihn, was er allerdings gar nicht als solche wahrnahm. Einmal hatte er versucht seine Klassenkameraden zu einer seiner Nachtwanderungen einzuladen, worauf diese erschrocken entgegneten, dass dies viel zu gefährlich sei und das man so etwas als Kind doch gar nicht darf. Fest von sich überzeugt, wollte Thomas sie vom Gegenteil überzeugen, indem er ihnen erzählte, dass die Blicke der Nachbaren viel gefährlicher wären als ein Räuber zur Nacht. Doch Aussagen wie diese hatten zur Folge, dass er von seinen gleichaltrigen Mitmenschen als verschrobener Spinner abgestempelt und von den Erwachsenen als psychotischer Träumer betrachtet wurde. Er war komplett auf sich alleine gestellt, was für ihn jedoch, wie gesagt, nicht das geringste Problem darstellte; er genoss die Einsamkeit, die er für die größte Zeit des Tages für sich hatte. Außerdem hatte er wenigstens eine gleichgesonnene Person, mit der er sich regelmäßig treffen konnte. Sie hieß Marie, war ungefähr im gleichen Alter wie er und jede Nacht um 21:30 Uhr trafen sie sich auf dem Aussichtsturm hinter der Kirche.
Und ziemlich bald musste dieser Moment kommen, also beendete er seinen ziellosen Spaziergang, orientiert sich, in welche Ecke der Stadt ihn die Nacht geführt hatte und zog los in Richtung der Kirche. Allerdings war er jetzt mit den Gedanken nicht mehr abwesend sondern konzentrierte sich auf seine Umgebung und behielt den zu gehenden Weg im Hinterkopf. So zog er unbeachtet durch die schummrigen Gassen und beobachtete im Vorübergehen die verschiedenen Szenerien hinter den beleuchteten Fensterscheiben. Genau das war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen. Wenn er so durch die leeren Straßen ging und es für einen gewöhnlichen Passanten den Eindruck machte, dass die Stadt leblos wurde, da wurde ihm erst bewusst wie viel Leben wirklich zwischen den fahlen Fassaden der Stadt steckte. Von Haus zu Haus änderten sich die Innenräume und die Personen mit ihren Gesprächen und ihren Handlungen. Oft sah er Ehepaare, die am Küchentisch saßen und sich gegenseitig ihre Erlebnisse des Tages erzählten. Manche taten das fröhlich und mit grinsenden Gesichtern, wobei sie verliebt und wie eine intakte Familie wirkten. Andere schrien sich dabei an, zogen Grimassen und warfen ihren Lebenspartnern Rechnungen, Scheidungen und andere Dinge aus der Erwachsenenwelt auf den Tisch. Dann fragte sich Thomas, was für schreckliche Sachen nach der Kindheit kommen können, die eine einst glückliche Familie so zugrunde richten konnten. Doch lange verweilte er nicht bei den Problemen der Erwachsenen, denn sobald er sich tiefer hineindachte verschwammen seine Gedanken, und er begriff, dass diese Sachen mit seinem jungen Geist noch nicht durchdacht werden konnten, außerdem wollte er ja eigentlich auch gar nichts davon wissen. Meistens waren in den selben Häusern, in denen die Ehepaare stritten oder lachten, ein paar Fenster weiter, die Kinder, die im Wohnzimmer spielten und lachten und sobald er dies sah, wurde ihm unwohl zumute und eine Art Mitleid legte sich über seine Gemüt. Dort waren sie! Geistig und körperlich eingeschlossen, mit dem Spielzeug, dass ihnen vorgeschrieben wurde, in dem Lebensraum, der auf sie angepasst war und mit ihren Erfahrungen, die im Voraus von den Eltern geplant wurden. Absolut nichts war daran aufregend oder unterhaltsam und doch grinsten und jubelten sie, als wären sie die Krone der Schöpfung, als besäßen sie all die schönen Dinge, und vor allem, als wüssten sie von all den schönen Dingen. Aber sie zu bemitleiden brachte niemandem etwas, außer ihm schlechte Stimmung, also ließ er davon auch schnell ab und zog weiter, in der Hoffnung, im nächsten Haus ein anderes Schauspiel zu entdecken. So ging er dahin und erblickte ab und an alte Frauen, die in ihren heruntergekommenen Häusern alleine vor dem Kachelofen saßen, strickten und dabei wirkten, als wären sie vom Leben schon verlassen, aber vom Tod vergessen worden, sodass sie nun bis in alle Ewigkeit einfach existieren würden. Ab und an, aber eher selten, kam ihm eine lustige Runde von befreundeten Ehepaaren zu Gesicht, die in einem Wohnzimmern zusammen saßen, Alkohol tranken (wobei ihm schon beim Gedanken an den Geruch schlecht wurde) und einfach Spaß hatten. Diesen Leuten traute er auch zu, dass sie, genau wie er, eine Ahnung davon hätten, die Nacht zu nutzen und Spaß am Leben zu haben, aber sicher war er sich nie, weil ihm auch bewusst war, dass er sich in seinem Alter niemals anmaßen durfte die Erwachsenen zu verstehen.

Dann gab es ein paar wenige Junggesellen in seiner Vorstadt, deren Häuser genauso verkommen waren wie die der alten Damen, jedoch wirkten diese anders. Die Häuser der Witwen waren ganz langsam von der Zeit verstaubt worden und strahlten somit etwas poetisches, würdevolles aus, weil man ihnen ansah, dass sie solange wie möglich gepflegt und geliebt wurden. Die Häuser der Junggesellen hingegen, hatten einfach etwas von pragmatischer Verzweiflung an sich, was Thomas auf die Absenz von Lebenslust und Charakter der Bewohner zurückführte. In diesen Häusern gab es so gut wie nie etwas zu sehen. Die vergilbten Gardinen waren stets zugezogen und changierten im Flackern des Fernsehers durch die Nacht wie fernes Wetterleuchten. Allgemein fiel ihm auf, dass in den allermeisten Häusern zu dieser Uhrzeit im Wohnzimmer der Fernseher lief und der Rest des Hauses dunkel war. Es war definitiv die Lieblingsbeschäftigung der Leute in seiner Vorstadt. Sie alle saßen Abend für Abend dort, sahen sich das Einheitsprogramm an und warteten darauf zu sterben, und das, obwohl es doch hier draußen so viel zu sehen gab. Für ihn blieb es unverständlich; für ihn, der in seinen jungen Jahren schon begriffen hatte wie viel es zu beobachten und zu erleben gab, dem bewusst geworden war, wie viel Leben selbst in einer leblosen Nacht steckte. Ihm tat es richtig weh, zu wissen, wie viel die dunklen Straßen zu bieten hatten und wie viele Personen trotzdem ihr Leben in den tristen Räumen verstreichen ließen. Je mehr Häuser und Fenster er passierte, und je mehr Eindrücke er im Laufe der Nacht einsammelte, desto mehr faszinierte ihn immer wieder auf’s neue die komplexe Welt mit ihren unendlich vielen parallelen Geschehnissen, deren man sich eigentlich nie bewusst ist, die aber trotzdem um einen herum stattfinden. Immer hoffte er richtig zu handeln und stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein um immer das Wichtigste zu erleben und beeinflussen zu können, doch in diesen Momenten begriff er, dass dies unmöglich war und dass er höchst wahrscheinlich nie etwas verändern werden wird. Diese Erkenntnis beschlich ihn ganz langsam, sukzessive, von Nacht zu Nacht, und je mehr er davon verstand, desto mehr fürchtete er sich davor, noch mehr darüber zu erfahren. Wenn es einmal zu viel Erfahrung auf einmal wurde, versuchte er in der folgenden Nacht besonders unaufmerksam zu sein, einfach umher zu flanieren und so wenige Eindrücke wie möglich zu sammeln. Doch irgendwann begriff er, dass es unvermeidbar war, diese Weisheiten zu erkennen und unterbewusst stieg in ihm eine Ahnung auf, dass das Anhäufen dieser Erkenntnisse die Quelle der Verbitterung der Erwachsenen sein musste. Und so verloren sich seine Gedanken mal wieder in den Irrwegen seines zarten Verstandes. Er schlenderte dahin, verlor Geschwindigkeit, sein Zeitgefühl und sein eigentliches Ziel, sann seinen eigenen, wirren Gespinsten hinterher und beobachtete währenddessen seinen Schatten auf dem Boden, der ihn von Laterne zu Laterne überholte und schließlich wieder zurückkam um ihn bei der nächsten Laterne wieder zu überholen… Ungeachtet glitten nun die Häuser mit ihren individuellen Geschichten an ihm vorüber, über ihm das Firmament und unter seinen Füßen der Boden, alles zog beständig dahin, immer weiter. Er stellte sich vor, dass er wie ein Riese auf dem Erdball lief und durch seine Beine die große ganze Welt in Rotation behielt. Der Rhythmus der Menschheit, der Natur und des Universums lastet wie eine große Verantwortung auf ihm. Stolz erfüllte ihn, als er sich vorstellte, dass alles in seinen Händen, bzw. Füßen, lag. Tag und Nacht, Zeit und Raum, alles hing von ihm ab und ihm war zu verdanken, dass alles funktionierte, wie es funktionieren soll. Dann kam er auf die Idee seine Schritte etwas zu beschleunigen um dadurch die Zeit ein Stück vorzudrehen. Diese Überlegung erfüllte ihn mit schelmischer Genugtuung, die ihm ein freches Grinsen ins Gesicht zauberte. Er ließ sich den Plan und dessen Folgen genüsslich auf der Zunge zergehen. Die Milliarden Menschen, die morgen früh verschlafen würden, die unzähligen Bahn- und Fluggesellschaften die aus dem Rhythmus kämen, selbst der Biorhythmus sämtlicher Tiere und Pflanzen…die komplette Welt würde aus dem Ruder laufen, alles würde drunter und drüber gehen. Was doch alles von der Zeit abhängt, dachte er, wie viel Heil sie bringt und wie viel Schaden sie anrichten kann… In einem Moment ist sie Segen, im nächsten Moment ist sie Zerstörung. Was war überhaupt ein Moment? Stehende Zeit? Vergleichbar mit einer kaputten Uhr? Oder das, was er erlebte, wenn er in verschneiten Winternächten die Vorstadt verließ und draußen auf den Feldern im endlosen Weiß stand und die Ruhe nahezu knisterte? Da bemerkte er die Abstraktheit dieser ganzen bedeutungsvollen Begriffe. Auf eine Weise ist Zeit das einzig wirklich reale, das einzig entscheidende, doch auf eine andere Weise ist sie so unergründlich wie der Horizont bei Nacht. Eine Menge solcher Sachen gingen ihm durch den Kopf, sprangen wild durcheinander und riefen ein herrlich-schöne Verwirrung hervor. Und dann, urplötzlich, durch die Gedanken über die Gefahren der Zeit induziert, huschte ein kurzer Fetzen Realität durch seinen Kopf, der ihn sofort aus seinem nächtlichen Tagtraum riss und auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte. Mal wieder war er in seinen Phantasiewelten entführt worden, hatte komplett den Realitätsbezug verloren, war im unendlichen geistigen Labyrinth verloren gegangen. Schließlich war es auch ebendieses, das ihn wieder ausgespuckt hatte und ihn nun hier verwirrt und desorientiert auf der Straße zurückließ. Er konnte sich nicht entsinnen was es war, das ihn hatte hochschrecken lassen, doch er wusste, dass es etwas unangenehmes war. Da stand er nun, atmete tief und das Herz pochte nervös in seiner jungen Brust, seine Augen waren in die schwarze Leere der Straße gerichtet und sein Verstand war vergebens auf der Suche nach den letzten Gedanken. Um ihn herum war nahezu alles Leben erloschen. Die Fenster waren fast alle verdunkelt, nur die Straßenlaternen flackerten noch und verunreinigten mit ihrem dreckigen Licht die klare Nachtluft. Ein sanfter, frühsommerlicher Wind wehte durch die Straßen, ließ die schwer beladenen Büsche und Sträucher in den Lichtkegeln hin- und herwiegen und trug das Rauschen der weit entfernten Autobahn durch die Vorstadt ins Unterbewusstsein der Schlafenden. Einige Häuser weiter bellte ein ausgesperrter Hund sein trauriges Geheul in die Unendlichkeit hinaus und aus der Kirchgasse schallte das Läuten der Kirchenglocke. Der dritte Schlag dieser Kirchenglocke war es, der seinen Körper durchzuckte, das Schlamassel in seinem Kopf entwirrte und ihn eiskalt erstarren ließ. Es war 21:30 und Marie musste schon beim Turm auf ihn warten, diese beiden Tatsachen wurden ihm gleichzeitig bewusst.

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