Samstag, 22. März 2014

Im Schatten der Nacht, Teil 2/3

Sofort stieg Selbsthass in ihm auf, denn dies passierte ihm andauernd, nahezu zweimal pro Woche. Und jedes mal wurde er wütend auf seinen verträumten Charakter, auf sein fehlendes Pflichtbewusstsein und auf seine Uhr, die wie immer daheim lag; kurzum auf all die Dinge, die er Augenblicke zuvor in seiner Traumwelt als sehr wertvoll empfunden hatte. Während die Wut in ihm aufschäumte, versuchte er sich gleichzeitig zu orientieren um wenigstens weiterhin keine Zeit mehr zu verlieren. In Sekundenschnelle hatte er sich zurechtgefunden und so eilte er mit dem Kopf voll brausenden Selbstvorwürfen und der Angst, dass sie eines Nachts nicht mehr auf ihn warten würde, los, in Richtung der schallenden Glocke.

Nachdem Thomas in den Gärtnerweg eingebogen war verstummte das Läuten, wodurch seine Anspannung den Höhepunkt erreichte, denn jetzt war er schon mindestens drei Minuten zu spät. Eine Art trauernde Angst davor, Marie möglicherweise nie mehr zu sehen, weil sie eines Nachts keine Lust mehr auf das Warten hatte, erfüllte ihn mit Gewissensbissen. In höchster Eile hastete er durch die dunklen Gassen und die noch dunkleren Schleichwege und wirkte dabei wie ein Schatten auf der Flucht vor dem Licht. Das letzte Stück zur Kirchgasse kürzte er ab, indem er durch einen schmalen Spalt zwischen zwei Häuserreihen ging, in dem es tagsüber nach Gemüseresten und zur Nacht nach kaltem Fleisch roch. Von dieser Abkürzung machte er nur im äußersten Notfall Gebrauch, denn hier fürchtete sich selbst Thomas. Sobald er den Spalt betreten hatte musste er stehen bleiben um sich an die Umgebung gewöhnen zu können, denn hier war es so finster, dass selbst er Schwierigkeiten hatte etwas zu sehen. Der beisende Geruch stieg ihm in die Nase und die Kälte der Sandsteinmauern hauchte ihm zarte Gänsehaut über den Rücken. Doch schon kurz darauf tastete er sich an den Hauswänden voran und nach etwa zwanzig Metern konnte er den Kirchplatz wie eine hell-leuchtende Säule am Ende seines Weges sehen. Auf den Schluss der Spalte hin wurde das spärliche Licht, das von draußen herein schien, für seine großen Pupillen schon so zu viel, dass er blinzeln musste, und als er schließlich in die Kirchgasse hinaus trat, überkam ihn das würdige Antlitz der weißen Kirche, die hell im Mondlicht schien, wie ein erlösender Segen. Er stütze sich gegen die Hauswand, blinzelte in den Schein der Kirche, verschnaufte für eine Weile um nicht außer Puste bei Marie anzukommen und sog währenddessen den beruhigenden Anblick in sich auf. Das Kopfsteinpflaster schimmerte verhalten im Mondschein, die Häuser rings um die Kirche herum schlummerten zufrieden und strahlten, aufgrund ihrer Nähe zum mächtigsten Gebäude der Stadt, eine gewisse Ruhe aus. Die Kirche selbst, die majestätisch-gelassen in der Mitte des großen Platzes thronte, reflektierte diese Ruhe, verstärkte sie noch durch ihre eigene Gelassenheit und mischte diesem gesamten Eindruck etwas Unheimliches bei, das wohl von den langgezogenen Schatten der Heiligenfiguren kam, die an ihrer gotischen Fassade angebracht waren. Untermalt wurde das Ganze vom Rauschen der Blätter der Bäume, die den Kirchplatz säumten; und über alledem war das nahezu wolkenfreie Firmament gespannt, wo unzählige Sterne funkelten und wo der Mond, mit seinem magischen Schein, den wichtigsten Teil zu dem Gesamtbild beitrug. Das waren die wirklich zauberhaften Augenblicke, die die Nacht zu bieten hatte, und wegen denen es ihn Tag ein Tag aus nach draußen zog. Hier war er zuhause, hier fühlte er sich wohl. Große Ehrerbietung gegenüber diesem Moment und eine kitzelnde Freude auf Marie bestimmten sein Empfinden und so ging er los in Richtung der Kirche, hinter der sie warten würde.
Hier, auf diesem heiligem Platz, war ihm nicht danach den Schutz der Schatten zu suchen, im Gegenteil versuchte er sie zu meiden um möglichst viel vom silbrigen Mondlicht auf seiner Haut zu spüren. So mäanderte er an den Bäumen vorbei über den großen Kirchplatz und schlich um den Westflügel des gewaltigen Gebäudes um zur Stadtmauer an der Nordseite der Kirche zu gelangen. Kurz bevor der Turm der Stadtmauer in sein Sichtfeld drang, drückte er sich hinter einer Säule an die raue Kirchenwand und blickte vorsichtig um die Ecke um zu sehen ob sie da war. Langsam schob er sein linkes Auge, das er nicht zugekniffenen hatte, an der Säule hervor bis er das sehen konnte, was er sehen wollte. Und da oben stand sie, Marie! Die Konturen ihres zarten Körpers setzten sich klar vor dem Nachthimmel ab und in ihrem blonden Haar spielte das Mondlicht und zauberte einen kleinen Heiligenschein um ihren Kopf. Ihre Körperhaltung machte einen gelangweilten Eindruck, jedoch noch keinen genervten, das war gut. Thomas zog sich wieder hinter die Säule zurück, lehnte sich an die Kirchenwand und neigte seinen Kopf ins Genick, bis er auch an der an der Wand anlag. Dann schloss er seine Augen, atmete tief ein, wobei sich synchron dazu sein Blick in ein Grinsen verwandelte, und huschte anschließend um die Ecke, in Richtung des Turmes.
Seine Blick haftete, während er eiligen Schrittes zum Turm lief, dauerhaft auf ihrer märchenhaften Gestalt, die da oben irgendwo zwischen Licht und Schatten wartete. Marie blickte nicht direkt nach unten, doch er konnte an ihren Bewegungen erkennen, dass sie sein Kommen bemerkt hatte. Sein Umfeld verschwamm und er konnte sich auf nichts mehr wirklich konzentrieren. Die Gefühle nahmen in ihm zu sehr überhand, als dass in seinem kleinen Geist Platz für Wahrgenommenes gewesen wäre. Ihm kam es vor, als würde durch die steigende Aufregung sein Herz schneller schlagen und gleichzeitig durch den schnelleren Herzschlag seine Aufregung steigen. Verzweifelt legte er sich die ersten Worte, die er zu ihr sagen würde, im Kopf zurecht und verlor sie im nächsten Moment vor lauter Nervosität schon wieder. Doch obwohl in seinem Inneren alles drunter und drüber ging, funktionierte wenigstens sein körperliches Handeln noch rational. Stetig und selbstsicher schritt er voran und erreichte schließlich den Aussichtsturm. Ohne am Fuß des Turmes zu pausieren, stieg er zielsicher die Wendeltreppe voran, die sich an der Außenseite der runden Sandsteinwand empor schlängelte. Dabei frequentierte sein Blick nervös zwischen den unmittelbaren Stufen vor ihm, die Schutz vor Marie’s plötzlichen Präsenz boten, und dem, für ihn sichtbaren, oberen Ende der Stufen, wo er gleichzeitig hoffte, sie möglichst schnell zu erblicken. Das Himmelsgewölbe drehte sich während seinem Aufstieg konsequent um in herum, alle Sterne tanzten wild um seine Achse und der Mond zog in regelmäßigen Abständen durch sein Sichtfeld. Ein erstes Mal, ein zweites Mal und ein drittes Mal, wobei er der Meinung war, spüren zu können, wie er dem Mond näher kommt. Als er sich zum vierten Mal vorbeidrehte wusste Thomas, dass dies das letzte Mal sein würde, bevor er oben ankommen würde. Dies war der Moment, in dem sämtliche Gefühle und Eindrücke ein wahres Chaos in ihm anrichteten, sich schließlich zu einem großen Kribbeln im Bauch vermengten und ihm diesen Augenblick so sehr versüßten. Jede Nacht empfand er an dieser Stelle dieses Kribbeln, jede Nacht war es auf eine etwas andere, intensivere Weise aufregend und neu und jede Nacht war es dieses Empfinden, dass ihn selbst Stunden später, wenn er schon wieder daheim im Bett lag, vor Sehnsucht grinsen und vermissen ließ und ihm dadurch eine weitere Stunde seiner kurzen Nacht stahl. Mit diesem Gefühl in der Magengrube absolvierte er die letzten Stufen und ab der Viertletzten schob sich nach und nach das oberste Plateau des Aussichtsturmes in sein Blickfeld.
Seine Augen wanderten verstohlen von ihren schwarzen Spitzen-Ballerinas über ihre schwarzen Leggins, den weiß-gepunkteten Chiffonrock und ihre sommerliche, weiße Strickjacke nach oben und fanden schließlich Halt in ihren Augen. Ein verlegenes Grinsen huschte ihr über’s Gesicht, was er regungslos erwiderte und so standen sie für einige knisternde Sekunden da oben und gaben sich samt ihrer kindlichen Unschuld komplett der Magie des Moments hin. Der warme Nachtwind umspielte Maries Haar und hauchte ihr vereinzelt Strähnen ins Gesicht, in ihren Augen spiegelte sich mehrfach das kühle Mondlicht und gab ihnen einen silbrigen, geheimnisvollen Glanz, ihre zarten Hände fingerten an den Rockfalten herum, strichen müßig eine nach der anderen glatt, die sich allerdings sofort wieder zurück falteten, und ihre Beine hatte sie überkreuzt und zeichnete mit ihrem rechten Fuß einen Halbkreis im staubigen Boden ab. Thomas zupfte hinter seinem Rücken nervös an seinen Fingern herum, stand aber fest auf beiden Beinen und während er sich in ihren Augen verlor, kam ihm eine böse Ahnung empor, wie zerzaust und durchgeschwitzt er aussehen musste. Seine Kopfhaut juckte und das T-Shirt hing klebrig über seinem Oberkörper. Kurzzeitig huschte sein Blick kritisch an seinem Körper hinab, doch die Erkenntnis, dass er jetzt sowieso nichts mehr an seinem Zustand ändern konnte, ließ seine Augen sofort wieder zurückblitzen und in den Hafen ihrer Augen zurückkehren. Hinter Maries zärtlicher Gestalt zeichnete sich groß und alt die Kirche ab, die aufgrund ihrer Weisheit und ihrer Lebenserfahrung auf Thomas den Eindruck machte, als hielt sie ihre wachsamen Augen über diese kindliche Begebenheit, die sich hier in ihrem Schutze abspielte. Außer der Kirche war nun die gesamte Stadt endgültig in Tiefschlaf verfallen, es herrschte endlose Stille um die beiden auf ihrem Turm. Lediglich die Bäume raschelten noch etwas und hinter Thomas, unten, vor der Stadtmauer, plätscherte ganze leise und vorsichtig der Bach durch sein Bett. 

Nahezu eine Minute standen sie so da, durch das Band ihrer Blicke verbunden und durch die Frequenz ihrer Gedanken vereint. Beide zehrten sie aneinander, gaben sich gegenseitig Hoffnung und nahmen einander die Angst vor dem was als nächstes kommen würde. Nach einiger Zeit lockerte Marie das Band zwischen ihnen und zog ihren Blick über ihm weg in den funkelnden Nachthimmel. Das war für Thomas das Zeichen, dass er schon einen Moment zu lange ausgeharrt hatte, also ging er jetzt auf sie zu, lehnte sich neben ihrer elfenhaften Gestalt auch mit dem Hintern an die Brüstung des Turms, blickte über seine Schulter zur Seite, wieder direkt in ihre Augen, und begann: „Entschuldige die Verspätung, ich hab mich wieder in den Vorstadtstraßen verloren, die Häuser waren einfach zu interessant. Wie geht es dir? Musstest du lange warten?“ Darauf schüttelte sie heftig abwehrend ihren Kopf und schenkte ihm einen verheißungsvoll-tröstenden Blick. Dann ergriff sie seine linke Hand, schmiegte ihre kleinen Finger zwischen seine etwas größeren und deutete mit ihrer linken Hand in den weiten Himmel in Richtung des Mondes, wohin sie beide ihre Blicke schweifen ließen. Dieser stand ganz hinten über dem Horizont und hatte die Kapelle, die dort hinten auf dem Berg thronte, schon passiert. Für die beiden war dies das Zeichen, dass es höchste Zeit war mir ihrem allnächtlichen Ritual, dem Vorsingen, zu beginnen. Erschrocken wandte sich Thomas ihr wieder zu: „Oh Gott, so spät ist es schon! Wie lange ich für meinen Weg gebraucht haben muss... Entschuldige nochmals! Na gut, hast du ein schönes neues Lied dabei?“ Sie beschwichtige seine anhaltende Besorgnis um seine Verspätung mit einer geschickten Handbewegung, entgegnete seiner Frage mit einem Kopfnicken und einem strahlendem Lächeln und zog gleichzeitig aus ihrer Strickjacke ein kleines rotes Buch mit der Aufschrift „Das Buch der zauberhaften Kinderlieder“ heraus. Zielstrebig schlug sie eine Seite auf, deutete auf ein Lied mit dem Namen Sternenreigen und übergab Thomas das Buch. Prüfend überflog dieser die Seite, nickte ihr anschließend, ebenfalls grinsend, zu und so setzen sie sich auf den staubigen Boden in der vom Mond beschienen Seite des Turmplateaus. Er legte seinen Arm um ihre Schultern, schmiegte seine angewinkelten Knie an ihre, hielt das Buch zwischen sie in die Mitte, atmete den sommerlich-milden Duft ihrer Haare ein und begann zu singen.

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